Ein Soldat in Kampfmontur macht ein Selfie mit dem ukrainischen Präsidenten
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Wolodymyr Selenskyj mit ukrainischen Soldaten

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Dramatischer Krieg der Bilder: Selenskyj im umkämpften Bachmut

Erbittertes Propaganda-Duell: Der ukrainische Präsident will sich an den gefährlichsten Frontabschnitt begeben haben und zeichnete Soldaten aus. Putin dagegen tourte jüngst ziemlich einsam über die Krim und in die besetzte Stadt Mariupol.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Bilder sind für Propagandisten wichtiger als Worte, sie wirken emotional und direkt, müssen allerdings besonders sorgfältig inszeniert werden, weil sie leicht "falsch" verstanden werden können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will nach eigenen Angaben jetzt an die Front bei Bachmut gereist sein und ließ eine Vielzahl von Fotos verbreiten, auf denen er umringt von Soldaten in einer bunkerartigen Anlage zu sehen ist: "Ich habe die Ehre, heute hier im Osten unseres Staates, im Donbass, zu sein und unsere Helden zu belohnen, ihnen Danke zu sagen, Hände zu schütteln. Danke, dass Sie den Staat, die Souveränität und den Osten der Ukraine schützen", soll der Präsident laut eigener Website vor Ort gesagt haben. Ein Artillerist wurde von ihm besonders ausgezeichnet.

Hat Russland Fähigkeiten überschätzt?

Die russischen Medien berichteten umgehend darüber, auch die regierungseigene Nachrichtenagentur TASS, wobei sie offen ließen, wie glaubwürdig die Angaben aus Kiew sind. In russischen Blogs wurde schon mehrfach behauptet, die umkämpfte Stadt Bachmut sei "eingekesselt", was bisher von neutralen Beobachtern allerdings nicht bestätigt wurde.

Vielmehr hatte das amerikanische "Institute for the Study of War" im Tagesbericht vom 20. März mitgeteilt, die russische Armee riskiere, an der Front die Initiative zu verlieren. In Bachmut machten Putins Truppen derzeit allenfalls "geringfügige Fortschritte". Es sei zwar "möglich", dass sich die Ukraine zurückziehen müsse, aber nicht "wahrscheinlich". Der kremlnahe Politologe Sergej Markow schrieb in einem Post ziemlich entgeistert: "Warum die russische Armee nicht vorrückt, fragen sich alle Militäranalysten der Welt." Mit seinem jüngsten Auftritt greift Selenskyj vehement ein in diesen Kampf um die Deutungshoheit, der nicht nur vor Ort tobt. Auf Twitter ist Bachmut im Sekundentakt Thema.

Selenskyj geht auf "Tuchfühlung" mit Soldaten
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Propagandistische Umarmung

Dort wurde denn auch von russischen Bots gespottet, Selenskyj habe wohl irgendeine "Tiefgarage" besichtigt. Russische Blogger schimpften: "Solche Reisen von Selenskyj enden immer häufiger damit, dass russische Kämpfer kurz darauf am Ort seiner Besuche fotografiert werden." Ein Hinweis darauf, wie wichtig es allen Beteiligten geworden ist, ihre militärischen "Erfolge" so schnell wie möglich auf Bildern zu dokumentieren. Der russische Blogger Vladlen Tatarsky behauptete, Selenskyj habe deshalb "kein Heldentum" bewiesen, weil er vermutlich rund dreißig Kilometer von der Front entfernt aufgetreten sei: Auf dem Video seien keinerlei Artilleriegeräusche zu hören: "Die Leute tragen frisch gewaschene Uniformen, die im Bild zu sehenden Autos sind blitzsauber. Dabei herrscht in Bachmut derzeit Frühjahrstauwetter, sogar Panzer bleiben dort im Schlamm stecken."

Anhänger und Gegner der Ukraine lieferten sich in allen möglichen Weltsprachen einen erbitterten Streit darüber, was die Bilder zu bedeuten hätten: "Kann sein, dass Russland seine Fähigkeiten überschätzt hat, die Stadt vom Nachschub abzuschneiden, wenn Selenskyj rein und raus spazieren kann." Der ukrainische Präsident habe wohl "Eier aus Stahl", lobten seine Fans: "Habt ihr nicht alle vor zwei Wochen vorhergesagt, Bachmut würde eingenommen?"

Prigoschin sprach von "düsteren Aussichten"

Der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, dessen Leute in Bachmut besonders engagiert sind, sprach von "düsteren Aussichten" und "zerplatzten Seifenblasen". Er warnte den von ihm regelmäßig geschmähten russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Söldnern drohe selbst die Einkreisung durch ukrainische Truppen. In den kommenden Wochen müsse der Kreml dringend mit Verstärkung an Mensch und Munition für Abhilfe sorgen, um Schlimmeres zu verhüten. In Bachmut wird seit Monaten mit größtem materiellen Aufwand gekämpft, die Rede war von 10.000 Tonnen Munition pro Monat, ohne dass die Schlacht bisher entschieden ist.

"Lage weder schwarz, noch weiß"

Der ukrainische Ex-General Igor Romanenko versprach in einem Interview, dass sich die Lage in "ein, maximal zwei Wochen klären" werde: "Dann wird es eine bessere Gelegenheit für Gegenoffensiven und die Befreiung der besetzten Gebiete geben." Der Militärexperte Rob Lee vom Londoner King´s College behauptete auf dem exilrussischen Portal "Meduza", aus ukrainischer Sicht sei die Lage bei Bachmut "weder schwarz, noch weiß". Er könne der Ukraine keinerlei Rat geben, sie müsse selbst wissen, welche Risiken sie eingehen wolle. Russland habe durchaus die Möglichkeit, Bachmut einzukesseln, für Kiew sei jede Taktik gefährlich. Fraglich sei allerdings, ob und wann die Russen ihre Truppen an diesem Frontabschnitt verstärkten.

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Putin in Mariupol

Die Fotos von Selenskyjs Frontbesuch stehen im scharfen Kontrast zu den Bildern des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der neulich Sewastopol auf der Halbinsel Krim und das besetzte Mariupol besucht hatte. Aus Sicherheitsgründen war die Reise vorher nicht angekündigt worden. Putin fuhr im Morgengrauen persönlich in einem Toyota Landcruiser durch die Straßen, nur begleitet von Marat Khusnullin, dem zuständigen Minister für Wiederaufbau und einem Kameramann. Die entstandenen Fotos sorgten für ein durchwachsenes Echo: Putin habe sich "im Schutze der Nacht" durch Mariupol geschlichen, heißt es in einem Kommentar der "Moscow Times".

"Alle Russen sind im Untergrund"

Tatsächlich wirken die Fotos allesamt surreal, einerseits durch das Licht der Dämmerung, andererseits, weil sie aus Videos kopiert wurden und daher eine niedrige Auflösung haben. Dazu kommt: Putin ist als einsamer, alter Mann zu sehen, etwa, wie er in einem völlig leeren Kinosaal sitzt. Das hat etwas Gespenstisches. Auf einem Video, in dem er mit Passanten spricht, war aus dem Off der Fluch eines offenbar vorbeikommenden Russen zu hören, alles sei "nur Show". Dass die Ukraine und andere Putin-Gegner verbreiteten, es sei sowieso nur ein "Doppelgänger" des russischen Präsidenten vor Ort gewesen, machte die Sache nicht besser.

"Es stellt sich heraus, dass in Russland, in ihrem eigenen Land, alle Bürger im Untergrund sind", interpretierte Waleri Panjuschkin von der "Moscow Times" die unheimlichen Fotos: "Jeder, vom einfachen Bürger in der U-Bahn bis zum Präsidenten. Alle müssen sich verstecken. Niemand kann gehen, wohin er will, sich auf seinem Handy ansehen, was er will, jemanden treffen, ohne Angst zu haben, in Stücke gerissen zu werden, denken und sagen, was er will, ohne Angst vor Verhaftung." Putin habe eine leere Schule besichtigt und mit ganzen fünf Personen Kontakt gehabt - wie ein unerwünschter Exil-Russe, der heimlich durchs Land reist, um familiäre Pflichten zu erfüllen.

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