Gerade jetzt zur Wiesn-Zeit wissen ja viele wie das ist: Neben sich zu stehen, sich selbst fremd zu werden, nicht mehr so genau zu wissen, wer das eigentlich ist, der einen da im Spiegel anschaut. Von solchen freiwilligen oder auch unfreiwilligen Grenzerfahrungen war die Romantik bekanntlich hellauf begeistert, damals wurden zuhauf Geschichten über Doppelgänger und Persönlichkeitsspaltungen geschrieben, oder, modern ausgedrückt: Bewusstsein und Unterbewusstsein klafften schwer auseinander.
Biedermeier war ein "Rechtsruck"
Für den Regisseur Hinrich Horstkotte ist das nicht nur psychologisch interessant, sondern auch politisch, denn im Biedermeier, als der "Freischütz" herauskam und die Romantik tonangebend war, hatte Deutschland gerade einen Rechtsruck hinter sich. Es wimmelte von Spitzeln, die Behörden witterten überall Demagogen, das freie Wort war gefährlich. Wer da nichts riskieren wollte, musste sich verstellen, tarnen, eben: Neben sich stehen. Und deshalb gibt es im Augsburger Freischütz Max, den Jägerburschen, gleich zwei Mal auf der Bühne: Kaspar, der mit dem Teufel verbündete Bösewicht, ist kein Gegenspieler, sondern nur die "schwarze Seite" von Max.
Gespenstergeschichte hat kein Happy-End
Das entspricht übrigens auch der Urfassung des "Freischütz" aus einem Gespensterbuch von 1810: Dort gibt es kein Happy-End - anders als in der Oper von Carl-Maria von Weber. Vielmehr erschießt der titelgebende, diabolische Jägerbursche seine Braut und landet selbst im Irrenhaus. Wirklich tragisch-düster, ja hoffnungslos - wie die damalige durch und durch reaktionäre Politik, die weder Verfassungen wollte, noch bürgerliche Mitbestimmung. Die vermeintlich plüschige Biedermeier-Ausstattung der Augsburger Inszenierung ist also nur oberflächlich gesehen nah am Volkstheater mit feschen Federhüten und Dirndln.
Irritierende "Selbstauslöschung" am Ende
An den Wänden krabbelt Ungeziefer und gruselige Schatten fallen durchs Fenster - eine bildstarke E.T.A.-Hoffmann-Fantasie und eine intelligente, vielschichtige und zupackende Regie-Arbeit, die in einer irritierenden Schluss-Szene gipfelt. Beide Persönlichkeiten von Max, die dunkle und die helle, schießen aufeinander: Eine Selbstauslöschung also. Bühnenbildner Siegfried Meyer setzte Entwürfe von Nicolas Bovey um. Beide meisterten ihre schwierige Aufgabe beeindruckend, denn die provisorische Bühne im Augsburger Martinipark ist winzig, hat weder Ober-, noch Untermaschinerie und lässt sich natürlich auch nicht drehen. Was bleibt, ist buchstäblich Kulissenschieberei, das aber gelang den Bühnentechnikern verblüffend schnell und unfallfrei.
Viel Beinfreiheit, aber enge Sitze
Im Vergleich zum überbreiten Orchestergraben ist die Spielfläche leider arg schmal geraten, so dass das Geschehen von den hinteren Zuschauerrreihen aus eher zu erahnen ist. Klar, dass die Atmosphäre unter einem Wellblech-Dach mit Betonwänden auch alles andere als glamourös ist. Obendrein hat das Publikum zwar viel Beinfreiheit, sitzt aber beengt. So wird das einige Jahre gehen, denn wann das Augsburger Stammhaus tatsächlich fertig renoviert ist, wer will das schon vorhersagen: Offiziell sind acht bis zehn Jahre veranschlagt.
Beschilderung wird nachgebessert
Immerhin, akustisch ist das Ausweichquartier erstaunlich ausbalanciert, auch dank des Dirigats des ungarischen Generalmusikdirektors Domonkos Héja, der die gut geprobten Philharmoniker sehr sängerfreundlich und zurückgenommen leitete. Bei den Solisten wurde wieder einmal schmerzlich deutlich, wie schwer sich Sänger mit Sprechtexten tun. Da wurde viel nachbuchstabiert und holperig vorgetragen statt geschauspielert. Wolfgang Schwaninger als Max und Alejandro Marco-Buhrmester waren als Doppelgänger gesanglich bestens präpariert, Sally du Randt dagegen ist als Agathe keine Idealbesetzung: Sie agierte viel zu passiv, sang eher ruppig als innig. Großer Beifall dagegen für Jihyun Cecilia Lee als Ännchen. Der Chor schien noch sehr nervös und unausgeglichen, kein Wunder, bei der Hektik vor der Spielzeiteröffnung im neuen Haus. Manches soll technisch nachgebessert werden - übrigens auch die fehlende Beschilderung zur Ausweich-Spielstätte. Noch wird der Besuch zum Abenteuer, wohlgemerkt: Bevor sich der Vorhang hebt.
Wieder am 5., 8. und 13. Oktober.