Die Menschen fühlen sich angeschaut, hat Helga Reidemeister einmal über ihre Arbeitsweise gesagt, und sie meinte damit nicht den mitunter entblößenden Blick der Kamera, sondern ihren eigenen, einen voller Wärme und Neugierde. Die Dokumentarfilmerin hat die Menschen in ihren Werken nie als Objekte begriffen, als dramatische Figuren, die für 90 Minuten auf der Leinwand auftauchen und dann wieder verschwinden, sondern immer als Charaktere, die ihr Leben begleiten. Das hat viel mit dem Vertrauen zu tun, das die Regisseurin meist weit vor den eigentlichen Dreharbeiten immer versucht hat aufzubauen: "Das kann Jahre dauern, bis man ein Vertrauensverhältnis hat mit jemandem und es kann eben ganz schnell gehen oder eben sofort da sein. Man guckt sich in die Augen", sagt sie - und schon ist die Chemie zwischen der Filmemacherin und einem Protagonisten da.
Das Glück des afghanischen "Opas" mit seiner 16-Jährigen
In einem ihrer Afghanistan-Filme passierte Helga Reidemeister genau das mit einem älteren Mann, der zuerst recht misstrauisch und abweisend erschien: "Und als ich ihn gefragt habe über seine Frauen und er erzählt hat, dass er eine 16-Jährige hat, da habe ich in meiner unverschämten Art gesagt, 'aber Mensch, Du bist doch ein Opa, Du kannst doch nicht eine 16-jährige Frau haben!' Er hat das natürlich nicht verstanden, aber wir hatten unseren Fahrer als Dolmetscher dabei. Als der ihm endlich gesagt hat, ich gesagt habe, 'Du bist doch ein Opa, Du bist doch viel zu alt' war das so komisch dann, die Reaktion in seinem Gesicht: Da guckt er mich zum ersten Mal neugierig an, weil da war zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau, die protestiert, die ihre Meinung sagt. Und da hat er gesagt: Dann lade ich sie ein, dann soll sie kommen und unser Glück angucken".
Seit Mitte der achtziger Jahre arbeitet Helga Reidemeister mit dem Kameramann Lars Barthel zusammen. Gemeinsam kommen sie den Menschen in ihren Filmen erstaunlich nahe. Barthel sagt, sie habe die Verpflichtung in sich, die Leute über die Filme hinaus zu begleiten. Helga Reidemeisters Arbeit ist erschöpfend, und das in doppelter Hinsicht. Zum einen weit ausholend, immer auch gesellschaftliche und politische Begleitumstände mitdenkend, zum anderen für sie selbst oft ermüdend. Vor vier Jahren hat sie gemeinsam mit Lars Barthel ihren letzten Film fertiggestellt,"Splitter Afghanistan" – und es wird wohl kein neuer dazukommen, seit sie durch einen Schlaganfall ans Bett gefesselt ist.
Begegnung auf Augenhöhe
Den einfachen Weg ist die Regisseurin nie gegangen, von Anfang an ergriff Helga Reidemeister Partei für ihre Protagonisten. Fünf Jahre lang war sie von 1968 bis 1973 als Sozialarbeiterin tätig, bevor sie sich entschied, die Missstände, denen sie täglich begegnete, öffentlich zu machen. Sie begann ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin und wollte mit genauem Blick die soziale Realität vor der eigenen Haustür ins Bild setzen. So fing alles an. Als sie 1979 mit „Von wegen Schicksal“ ihre Abschlussarbeit an der Filmhochschule vorlegte, löste der Film über häusliche Gewalt gegen Frauen eine prinzipielle Debatte über die Rolle von Dokumentarfilmern und -filmerinnen aus. Dem bis dahin gültigen Anspruch auf Objektivität und Neutralität setzte Reidemeister ihren eigenen Blick entgegen – und seitdem begegnen sie und ihr Kameramann Lars Barthel den Menschen mit subjektiver Intuition. Nähe im Film entsteht bei den beiden nicht durch eifriges Heranzoomen aus der Entfernung, sondern durch direkte Blickkontakte. Auch den Menschen in der Afghanistan-Trilogie nähern sie sich im direkten Austausch und auf Augenhöhe:
"Du spielst nicht den King, Kamera als Waffe, so ein Blödsinn"
Helga Reidemeister gehört zu den großen Dokumentaristinnen in Europa. Zweimal hat sie den Deutschen Filmpreis gewonnen. Und wer ihre Filme sieht, vergisst nicht mehr, wie nahe man Menschen mit der Kamera kommen kann.