Eine höchst ungewöhnliche Wortmeldung aus dem Gefängnis: Oppositionspolitiker Ilja Jaschin (39), wortmächtiger Kriegsgegner, YouTuber und bis 2021 Vorsitzender im Bezirksrat des Moskauer Stadtteils Krasnoselsky, sitzt wegen angeblicher "Fälschungen" über die russische Armee in U-Haft. Tatsächlich gehört er zu den lautstärksten Kritikern des Angriffskriegs auf die Ukraine und des Kreml-Regimes. Jetzt äußerte sich Jaschin schriftlich gegenüber der BBC und verwies dabei auf inoffizielle, aber ziemlich deutliche Winke seitens der Sicherheitsbehörden, wonach seine baldige Ausreise ganz im Sinne der Strafverfolger sei: "Eigentlich verstand ich alles sehr gut, aber ich wollte ihnen keine Geschenke machen. Ich kann sogar im Gefängnis ein Problem für sie sein. Letztlich ist es gar nicht so schwer, aus einer juristischen Plattform eine politische zu machen."
"Russland schätzt männliches Verhalten"
Er sei "angenehm überrascht", so Jaschin, wie oft er von "gewöhnlichen Polizisten, Begleitpersonal und Justizangestellten" aufgemuntert werde. Sie seien zwar oft nicht seiner Meinung, doch sein Mut bringe sie zum Nachdenken: "In Russland wird männliches Verhalten geschätzt." Die Hauptwaffe der Opposition sei die Wahrheit, die ihren "Snobismus" hinter sich lassen solle: "Wenn wir diesen Kampf um Herzen und Köpfe gewinnen, ergibt sich definitiv die Chance, das Land von Putins Regime zu befreien." Es gehe darum, der Bevölkerung die Illusion zu nehmen, wonach die Herrschenden massenhaft unterstützt würden: "Gemeinsam sollten wir einsehen, dass der Präsident Russland in eine Sackgasse getrieben, es zur Armut verdammt und seiner Zukunft beraubt hat."
Letztlich gehe es dem Präsidenten wohl nur um sein persönliches Ansehen als "starker Mann", so Jaschin: "Putin interessiert sich meiner Meinung nach nicht für Russland. Er befriedigt seine Ambitionen, versucht der ganzen Welt seine Coolness zu beweisen. Und, wie es scheint, bemerkt er nicht einmal, wie sein angeschwollenes Ego meiner Heimat die Zukunft nimmt." Der Krieg sei in der russischen Gesellschaft "viel weniger populär und verständlich" als die Besetzung der Krim: "Putin wird es also nicht leicht haben, die Folgen zu entwirren – zumal ihm die Lebkuchen ausgehen und nur noch Peitschen übrig bleiben."
"Europa nimmt den Kompromiss als Norm"
Gefragt, wie er es geschafft hat, so viel Mut vor dem Regime zu beweisen, sagte Jaschin, er handle aus "patriotischen Erwägungen" heraus: "Nur Verrückte haben vor nichts Angst. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte keine Angst. Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. Aber wer in Russland ernsthaft Politik machen will, muss bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen."
Skeptisch ist Jaschin, was die Möglichkeiten des Westens angeht, die Lage innerhalb Russlands zu beeinflussen. Das könnten nur die Russen selbst: "Das Problem mit westlichen Politikern ist, dass sie mit Putin im weitesten Sinne in verschiedenen Sprachen sprechen. In der europäischen Kultur wird der Kompromiss, die Fähigkeit, sich im Interesse der Wähler mit einem Gegner zu einigen, als Norm wahrgenommen. Für Putin ist jedes Zugeständnis eine Schwäche. Sie versuchen ihn zu überreden, ihn zu besänftigen, und im Ergebnis handelt er nur noch aggressiver. Er traf fast nie auf eine harte Abfuhr. Nun, außer vielleicht in diesem Jahr auf dem Territorium der Ukraine."
Erkennungssysteme in der U-Bahn
Auch der Oppositionelle Leonid Gosman hatte kürzlich kritisiert, die Regimegegner in Russland seien zu "arrogant" gegenüber der Durchschnittsbevölkerung. Es gehe manchem nur darum, die vielen Putin-Fans zu "demütigen". Zwischenzeitlich war Gosman für einige Stunden inhaftiert, weil er angeblich den Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft nicht "fristgerecht" den russischen Behörden gemeldet hatte.
Der Lieblingsmoderator von Putin im staatlichen Propagandafernsehen, Wladimir Solowjow, spottete jetzt, Gosman stehe in allen wichtigen Punkten gegen einen "Großteil der Russen" und habe das nicht länger ertragen können. Ein Gesichtserkennungssystem sei bei ihm allerdings nicht vonnöten: "Meiner Meinung nach hat er ein so markantes Gesicht, dass jeder ihn auch ohne [technische Hilfe] erkennt." Tatsächlich saß Gosman bei seiner Festnahme mit seinem Anwalt in einer U-Bahn, woraufhin angeblich das dort installierte Videosystem Alarm geschlagen haben soll: "Sie ließen mich gehen und entschuldigten sich sogar, sie sagten, dass dies eine Verwechslung sei. Ich denke, es ist nur ein Durcheinander", so der Dissident im Nachhinein. Aus "technischen Gründen" wurde der Fahndungsaufruf allerdings nicht rückgängig gemacht.
Auch Gosman, der in den neunziger Jahren Berater des damaligen Leiters der Präsidialverwaltung Anatoli Tschubais war, geht davon aus, dass die Behörden ihn zwingen wollen, das Land zu verlassen. Er war Mitte Juni aus Israel nach Russland zurückgekehrt, übrigens auch zur großen Verblüffung von TV-Hassprediger Solowjow. Die israelische Staatsbürgerschaft hatte Gosman bereits 2018 bekommen, darüber jedoch erst ein Jahr später die russischen Behörden in Kenntnis gesetzt, was dem dort geltenden Gesetz widerspricht.
Aktuelle Debatten, neue Filme und Ausstellungen, aufregende Musik und Vorführungen... In unserem kulturWelt-Podcast sprechen wir täglich über das, was die Welt der Kultur bewegt. Hier abonnieren!