Menschen fallen nicht vom Himmel. Auch ein so genanntes "Malergenie" wie Vincent van Gogh hat Vater und Mutter, die ihn prägten; ist in einer Landschaft aufgewachsen, die sich in seinem Auge festgesetzt hat; hat eine Ausbildung genossen, Bücher gelesen und war von Kindheit an mit anderen Menschen im Austausch – zum Beispiel den Geschwistern.
Schwester Anna erfüllt, was Vincent nicht erfüllen kann
Willem-Jan Verlinden spielt in seinem Buch "Vincents Schwestern" über Bande: Er versucht keineswegs, einzelne Werke des Malers biografisch zu erklären. Er erzählt einfach nur etwas über die Herkunft Van Goghs und legt den Akzent dabei konsequent auf die Schwestern. Da ist Anna, die – weil Vincent es nicht vermag – an seiner statt die Rolle der ältesten unter den Geschwistern übernimmt: "Anna ist ganz so, wie es die Eltern sich wünschten: gut ausgebildet, gearbeitet, eigenes Geld, Mann gefunden, mit Geld und Geschäften, sie ist auch religiös".
Da ist Lies, die am liebsten Dichterin werden und damit Geld verdienen will. Sie ist schlau, vergnügt sich auch gern mal und hasst Putzen. Die Beziehung der beiden ist schwierig, dabei sind sie sich vielleicht von allen am ähnlichsten – inklusive der mentalen Labilität.
Lebensmotto: "Lieber brennen als ersticken"
Und da ist Willemien, die jüngste Schwester, ihr ist Vincent zeitweise sehr nah, "lieber brennen als ersticken" lautet ihrer beider Lebensmotto. Will zeichnet – oft die gleichen Motive wie der Bruder –, und wie er wird sie nie heiraten. Sie schreiben über Literatur, Farbe, die Sonne und den Süden, über Kunst und die Liebe.
Bei allen Unterschieden zwischen den Geschwistern gibt es zwei Dinge, die sie einen: die Liebe zur Natur, zu langen Spaziergängen, Gartenarbeit und Blumen. Und: zur Literatur. Dahinter steckt eine große Neugier auf die Welt, ein Interesse an so gut wie allem. Es geht darum, Welt aufzunehmen, sich Gedanken zu machen – und sich darüber auch auszudrücken und auszutauschen, in welcher Form auch immer. "Man konnte schreiben, man konnte zeichnen, Briefe schrieben. Aber alles kommt zuerst an mit Sehen, Verstehen, zu sich nehmen und dann einen Weg suchen: Wie werde ich das rüberbringen? Dann gab es verschiedene Möglichkeiten das rüberzubringen, und in der Familie war klar, dass das Briefeschrieben am wichtigsten ist, aber auch Zeichnungen, um Gefühle auszudrücken, alle haben schon in der Jugend Unterricht bekommen".
Bildung großgeschrieben
In gewisser Hinsicht sind die van Goghs eine normale Familie: liebende Eltern, die sich eine gute Zukunft für die Kinder wünschen. Der Weg dorthin heißt Bildung: Alle drei Schwestern gehen aufs Internat, lernen Fremdsprachen, um als Lehrerin oder Gouvernante arbeiten und eigenständiges Geld verdienen zu können. Das ist keineswegs selbstverständlich in der Zeit, und die überhaupt nicht wohlhabenden Eltern gehen mit den Ausbildungskosten für die sechs Kinder an ihre finanziellen Grenzen.
Andererseits gehört die Familie der protestantischen Minderheit an und der Vater ist Pfarrer. Zu katholischen Kindern haben die van Gogh-Kinder kaum Kontakt. Das stärkt das Familienband. Als es die Geschwister an die unterschiedlichsten Orte verschlägt, nach London, Paris, den Haag oder anderswo, schreiben sie sich Briefe.
Viele Briefe schrieben die Geschwister
Mehr als 500 Briefe hat Willem-Jan Verlinden ausgewertet. "Fakten statt Fiktion" heißt sein Motto. Er schreibt warmherzig, aber ohne Schwärmerei, ganz ohne erdachte Dialoge oder gefühlige Interpretationen, wie man das in den derzeit so beliebten "Romanbiografien" über Künstlerinnen oft finden kann. Streitigkeiten, Vorwürfe, Tod und Krankheit sorgen von ganz allein für Drama und Drive in diesem Buch, und natürlich gibt es auch bei den van Goghs einen dunklen Fleck in der Familiengeschichte, in diesem Fall ein uneheliches Kind, das im Geheimen geboren wird und bei einer Pflegemutter aufwächst.
Am Ende der Lektüre hat man zwei Bücher gelesen: eines über die Herkunft von Vincent van Gogh, mit Informationen, die den Blick auf den Maler schärfen, bereichern, vielleicht sogar ganz neu justieren. Und eines über drei Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der man als Frau trotz guter Ausbildung, trotz wohlsituiertem Ehemann, Freundschaften und Familienbande sein Leben keinesfalls immer so leben konnte, wie sie es sich in frühen Briefen vielleicht einmal ausgemalt hatte.
Willem-Jan Verlinden: "Vincents Schwestern. Aus dem bewegten Leben der Familie Van Gogh" erscheint am 3. April bei Suhrkamp.
- Zum Podcast: "Vincent van Gogh: Begründer der Modernen Malerei"
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