"Spaziergang zu dir selbst" – so heißt ein Lebenshilfe-Ratgeber, der vermutlich nicht grundlos seit Wochen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste steht. Mittlerweile erinnern sich nur noch ältere Menschen daran, dass 1999 eines der meistgekauften Bücher der Saison das eines Marathonmannes und Außenministers war: "Mein langer Lauf zu mir selbst".
Da will uns der gemächliche Spaziergang schon eindeutig sympathischer erscheinen – und nicht nur uns, sondern offenkundig auch unseren Kolleginnen und Kollegen in der Presse, denn sie gehen gern spazieren mit Leuten, die sie porträtieren möchten. Nach dem Motto: Wir müssen miteinander gehen, nur so kann ich dich verstehen.
Der Spaziergang als erkenntnisförderndes Mittel
Diese Woche machte die Hamburger Illustrierte "Stern" etwa einen sogenannten "klärenden Spaziergang" mit dem Autor und Feuilletonisten Simon Strauß. Selbiges hatte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", für die Strauß arbeitet, bereits vor fast auf den Tag genau zehn Jahren mit Simons Vater Botho unternommen, damals im Winter 2013 stapfte man durch den Schnee in der "menschenleeren Uckermark" immer an der Seite des Dichters, in der Hoffnung, ihm kluge und ja, auch erklärende Sätze über das dahinspringende Damwild und seine Literatur natürlich abzulauschen.
Der Wald ist der perfekte Ort für ein klärendes Gespräch.
Woran man sieht: Immer, wenn ein Schriftsteller oder Intellektueller auf Abwegen wandelt, geht man mit ihm wandern. So entschloss sich auch das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" kürzlich, einen Reporter auf jene Kanaren-Insel zu entsenden, auf welcher der öffentliche Denker Harald Welzer in dieser kalten Jahreszeit von des Gedankens Blässe angekränkelt sich und seinen Teint der Sonne und ihrer wohltuenden Wirkung aussetzt, auf dass er bald wieder knusprig braun gebrannt in deutschen Talkshowsesseln Platz nehmen kann.
Auch mit jenem umstrittenen "Medienpromi" Harald Welzer war es also an der Zeit, ein wenig zu flanieren und dabei zu protokollieren, mit welchen Worten er seine unglücklichen Einlassungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine heute bedenkt: "Das ging echt schief." Ging nicht erst 2020 auch manches schief, als eben jener spazierlustige "Spiegel" mit dem "Irrläufer" Attila Hildmann in den Wald ging, um den Wirrkopf, wie es seinerzeit hieß, "mal ganz sanft zu erleben"?
Weniger klärend als verklärend
Als einer der Urväter des Genres freilich darf der Journalist Ben Witter gelten, der jahrzehntelang die Kolumne "Spaziergänge mit Prominenten" in der Wochenzeitung "Die Zeit" bespielte. Und doch wird es wohl der "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein gewesen sein, der den Spaziergang als erkenntnisförderndes Mittel für Journalisten aus der Taufe hob, als er 1966 mit dem Philosophen Martin Heidegger im Schwarzwald dessen gedankliche Holzwege hügelan und hügelabwärts abschritt.
Das erst zehn Jahre später posthum publizierte Ergebnis allerdings war nicht so, dass man die lange, an Windungen reiche Textstrecke, angeblich eine "Weltsensation", zum journalistischen Lehrpfad ausrufen mochte. Böse Zungen reden mit Blick auf den daraus entstandenen Artikel weniger von einem klärenden als vielmehr von einem verklärenden Spaziergang.
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