Die überfüllte Registrierungsstelle Moria im Jahr 2015
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Moira auf Lesbos, zwischenzeitlich das größte Fluchtlager Europas

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"Die Insel": Die Münchnerin Franziska Grillmeier auf Lesbos

Wie sieht es heute auf Lesbos aus? Hat sich die Situation der Flüchtenden verbessert? Die Münchnerin Franziska Grillmeier erzählt in ihrem Buch "Die Insel" detailliert und mitfühlend von der Lebenswirklichkeit der Gestrandeten an Europas Grenzen.

Über dieses Thema berichtet: Capriccio am .

Moria: seit 2015 Schauplatz des Leids - 2020 eskalierte es dann in dem hoffnungslos überfüllten Lager auf Lesbos. "Es war eigentlich wie ein Streichholzpackerl, was einfach nur in die Luft gehen musste. Es war nur eine Frage der Zeit," sagt Franziska Grillmeier. Die Münchner Journalistin wendet den Blick nicht ab von der Insel, während die Welt sich um andere Krisenherde kümmerte. Es wurde still um Lesbos. Das abgebrannte Flüchtlingslager wurde zum Symbol der gescheiterten Migrationspolitik.

"Ein Gürtel der Rechtsbrüche"

Danach habe sich auf der Insel ein Raum etabliert, der große Isolation bedeutete, so Grillmeier: "Man kam irgendwie nicht mehr so richtig zu den Menschen hin. Man hatte das Gefühl, da war irgendwie so eine Art Kommunikationsstrecke unterbrochen und das bedeutete auch, dass sich wie so eine Art Gürtel der – und das kann man nicht anders sagen – Rechtsbrüche um die Insel gelegt hat."

Grillmeier schildert das Geschehen auf Lesbos – jenseits der Schlagzeilen. Sie hört zu. Vor fünf Jahren zieht die Münchnerin dafür sogar auf die griechische Insel. Die erste Begeisterung über die Schönheit der Mittelmeerinsel wird bald getrübt: "Als ich dort zum ersten Mal ankam, dachte ich, Wahnsinn, wie schön das ist – und dann kommst du wie in so eine Parallelwelt rein."

Eine "Parallelwelt" voller Lärm und Elend

Ein paar Kilometer von der kleinen Hafenstadt entfernt liegt Moria. "Und dort riecht es einfach schon anders. Dort ist ein wahnsinnig hoher Geräuschpegel, also es ist ständiger Lärm und Menschen sind ständig in Bewegung und du hast echt Beklemmungen, dort reinzugehen", sagt die Journalistin.

Moria ist Warten, ewige Ungewissheit. Hier ist der Ausnahme- ein Normalzustand. Viele Geflüchtete werden hier retraumatisiert – die Bilder ihres Leids: instrumentalisiert. Lesbos sei eine Art Ausstellungsraum geworden, auch um zu zeigen und zu sagen "okay, wir kriegen das hier nicht hin." Gleichzeitig sei das auch Teil einer "Abschreckungs-Architektur", die irgendwie so gewollt schien.

Stimmen aus dem Elend

Bei ihren Besuchen im Lager erlebt Grillmeier aber auch anderes: Die Bewältigung des Alltags: Brotbacken als Akt des Widerstands, selbst organisierte Gottesdienste, die kleinen Momente des Glücks.

In ihrem Buch "Die Insel" stellt die Journalistin die Geflüchteten und die Helfenden in den Mittelpunkt, sie werden zu Chronisten ihrer eigenen Geschichte. Der Syrer Khaled ist seit einem Bombeneinschlag gelähmt. Auf dem Rücken von Freunden schafft er die Flucht bis nach Lesbos, wo er die Physiotherapeutin Fabiola Velasquez trifft: Sie trainiert mit ihm, monatelang. Bringt ihn später samt Familie nach Belgien.

Eskalation im Verborgenen

Nach dem großen Brand werden die Zustände immer katastrophaler. Die Geflüchteten protestieren und viele Einheimische auch: Die Menschen auf der Insel fühlen sich von der EU allein gelassen, vergessen. Zugleich kommt es zu immer mehr illegalen Zurückweisungen zu sogenannten "Pushbacks"."Diese Zurückweisungen sind nichts Neues, aber in diesem Ausmaß, wie sie dann seit 2020 passiert sind, haben sie einfach eine Eskalationsstufe angenommen, die absurd war. Es eskalierte so, dass Familien getrennt werden, dass ihnen Telefone und das Geld abgenommen werden, dass man dann aufs Meer rausgezogen wird auf irgendwelchen Rettungsinseln, wo man dann sich selbst überlassen wird. Das passiert bis heute und das ist etwas, was uns allen sehr große Sorgen bereitet, die wir dort sind, weil es etwas ist, was im Verborgenen passiert."

Kriminalisierung der Helfer

Seenotrettung und Berichterstattung werden zunehmend kriminalisiert – Helfende verhaftet, Journalisten der Spionage bezichtigt. Seit drei Jahren darf Grillmeier keine Bootsankunft mehr dokumentieren. Nach dem großen Feuer sind die vermeintlichen Brandstifter schnell verurteilt. Für Tausende Camp-Bewohner aber beginnt alles wieder von vorn.

"Ich glaube", so Grillmeier, "der für mich schwierigste Moment war nach dem Feuer, als die Leute dort wieder anstanden, um in ein neues Lager zu gehen, dass sich die EU nicht darauf einigen konnte, die Leute aufzunehmen. Einfach aus der Angst heraus 'dann kreieren wir ja irgendwie einen sogenannten Pull-Faktor'. Das war sehr zerstörerisch, auch weil man wirklich gesehen hat, die Leute waren danach gebrochen". Kinder, die verstummen; nachts ins Meer schlafwandeln. Psychische Gewalt, die nur schwer zu fassen ist.

Absolute Kontrolle

Die neue Politik: Statt Verwahrlosung nun absolute Kontrolle. Im neuen Hochsicherheitslager auf Samos werden die Bewohner seit eineinhalb Jahren permanent überwacht, dürfen nur zu bestimmten Zeiten raus und die Presse darf nur unter Aufsicht rein. Es besteht kein Kontakt zu den Bewohnern.

Das Lager gleicht einem Orwellschen Raum, der die Menschen zugleich unsichtbar macht. Grillmeier bekennt, sie sei verzweifelt auch weil die ganze Situation immer schlimmer werde. Dass sich da so wenig tue und man so festgefahren sei, dass man bereit sei, auch "Räume der Brutalität mittlerweile anzunehmen, die man davor nicht für möglich gehalten hätte. Und dass man jetzt vielleicht mehr, mehr Stille hat, mehr Ruhe auf den Inseln, aber sich der Lärm woandershin verschiebt, in Räume, wo man Menschen kaum mehr hört".

Ob Grillmeier auf Lesbos wohnen bleibt, ist offen. Doch sie will weiterhin von den europäischen Außengrenzen berichten. Zeugin sein. Anschreiben gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit – an den Rändern einer demokratischen Gemeinschaft.

Franziska Grillmeier: "Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas" ist bei C.H.Beck erschienen.

DIe Insel
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Franziska Grillmeier erinnert mit ihrem Buch "Die Insel" von den inhumanen Zuständen in den Fluchtlagern an den Rändern Europas.

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