Kritisch fällt die Bilanz der Historikerin Susanne Urban aus. Sie hält die auf der documenta 15 gezeigten und als antisemitisch diskutierten Werke für gefährlich, sagt sie im Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur: "Ich habe auf der documenta 15 subtilen und weniger subtilen Antisemitismus gesehen. Über Juden und Israel werden, was ich gesehen habe, klar und ausschließlich negative Bilder verwandt. Diese Bilder können zu Abwehrreaktionen und Wut bei Betrachtern führen, zu einer Ablehnung von Juden und von Israel, zu aufgestachelten Emotionen. ... Es werden alte Bilder reaktiviert und in die antisemitische Moderne übersetzt. Das ist gefährlich, denn es löst Reaktionen aus und verstärkt Bilder."
Urban bezweifelt, dass die Antisemitismusdebatte der documenta ein rein deutsches Problem darstellt. Immer wieder wird zur Verteidigung der Kunstfreiheit erwähnt, dass manche der Werke bereits vor der documenta 15 in anderen Ländern ohne Aufschrei gezeigt wurden. Urban widerspricht: "Eine Kulturwissenschaftlerin aus den USA hat das Banner People's Justice des Kollektivs Taring Pardi bereits vor Jahren als antisemitisch entschlüsselt. Auch die Bilder aus der Broschüre Presence des Femmes sind als problematisch bekannt. Antisemitismus und antisemitische Kunst sind kein deutsches Problem. Das ist eine Scheindiskussion. Man sagt, in Deutschland sei es wegen der Schoah besonders heikel, so etwas zu zeigen. Das ist perfide, weil es auch aussagt: Hätten die Deutschen kein Problem mit der Schoah oder könnten sich davon freimachen, dann könnte man hier auch so etwas zeigen. Ein Jude, der als Dämon oder tötende Maschine gezeigt wird, ist als Bild weltweit problematisch und transportiert vehementen Antisemitismus. Unabhängig von der deutschen Geschichte."
Und nun?
Susanne Urban plädiert dafür, in Sachen Kunstfreiheit in Zukunft sensibler und nicht spaltend zu agieren. Sie sagt: "Der Diskurs geriet seit Januar immer stärker in eine Schieflage. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte warnend auf einige Aspekte hingewiesen. Als Reaktion hat man jüdische Stimmen beschwichtigt, zur Seite gedrängt und vielleicht gehofft, dass sich das alles von selbst erledigt. Jüdische Stimmen hört man gerne zu Gedenktagen, zur Schoah oder beim Festjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. In Debatten um Postkolonialismus oder eine internationale Kunstschau möchte man anscheinend lieber nicht gestört werden. Hängen bleibt, dass man die documenta 15 durchpeitschen wollte. Es hätte vor allem eine Auseinandersetzung mit israelbezogenem Antisemitismus geben müssen. Genau das fand aber nicht statt."
Neuanfang bei der documenta?
Den fordert der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer. Bei einer Veranstaltung am Montagabend Köln sagte er aber auch, dass die documenta in Kassel als Idee aus seiner Sicht nach wie vor ein Erfolgsmodell sei oder zumindest wieder eines werden könne. Das werde zwar schwierig nach allem, was passiert sei, aber er sei nicht pessimistisch.
Weniger Besucher auf documenta 15 als bei Vorgängerschau
Die documenta-Leitung teilte mit, dass die Weltkunstschau trotz der Antisemitismus-Vorwürfe und der Auswirkungen der Corona-Pandemie zahlreiche Besucher angezogen habe: "Wenn wir die aktuellen Besuchszahlen hochrechnen, scheint es, als würden wir insgesamt nur etwa 15 bis 20 Prozent unter den Besuchszahlen der documenta 14 in Kassel landen", teilte der Interims-Geschäftsführer der Schau, Alexander Farenholtz, wenige Tage vor dem Ende der Ausstellung mit. Die vorläufigen Zahlen in diesem Jahr dürften sich also schätzungsweise zwischen rund 710 000 und 760 000 Besuchern bewegen. Endgültige Zahlen veröffentlicht die documenta einer Sprecherin zufolge erst nach dem Ende der Spielzeit am 25. September.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!