Alexander Hoffmann ist Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin Doktorand im Fach Ethnologie – ein junger Mann, der anfangs seine ganz eigenen, fortschrittlichen Vorstellungen von seinem Berufsstand hat und sich der damals verbreiteten evolutionistischen Rassentheorie widersetzt.
Schädel vermessen? Es wird der Wissenschaft schon dienen
Trotzdem nimmt der angehende Ethnologe im Rahmen der Deutschen Kolonial-Ausstellung an der Vermessung der Schädel einer Gruppe von Herero und Nama teil. Irgendwie wird es der Wissenschaft schon dienen. Die Probanden kommen aus dem Kolonialgebiet Deutsch-Südwestafrika nach Berlin und werden ausgestellt wie Tiere. Hoffmann vermisst den Kopf von Kezia Kambazembi, einer jungen Frau, die als Dolmetscherin tätig ist. Ein Missionar hat ihr Deutsch beigebracht. Der junge Doktorand stellt ihr Fragen und beginnt, sich intensiv für die beiden Volksgruppen zu interessieren.
Erster Kinofilm über deutsche Kolonialzeit in Afrika
Lars Kraumes neuer Film ist inspiriert von dem 1978 erschienenen Roman "Morenga". Autor Uwe Timm war damals einer der ersten, der die deutschen Kolonialverbrechen literarisch aufgriff. Er erzählte vom Aufstand der Herero und Nama im heutigen Namibia. 1985 entstand daraus ein TV-Dreiteiler. Das war’s dann auch schon aus deutscher Sicht in Sachen Film und Kolonialismus. Bis auf ein Propaganda-Drama über den rassistischen Kolonialisten Carl Peters, das während des Dritten Reichs entstanden war. Kraumes "Der vermessene Mensch" ist jetzt tatsächlich der erste Kinofilm über die deutsche Kolonialzeit in Afrika.
"Es gibt eine relativ einfache Erklärung dafür", sagt Kraume im BR24-Gespräch. "Deutschland musste nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1919 alle Kolonien abgeben. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die großen Freiheitskämpfe der ehemaligen Kolonialgebiete stattfanden, konnten sich die Deutschen schön zurücklehnen und sagen: 'Na, zum Glück haben wir nichts zu tun mit der Kolonialgeschichte'."
"Och, noch ein Genozid. Schrecklich."
Kraume, Jahrgang 1973 und in Frankfurt am Main aufgewachsen, drehte ab 2003 zehn "Tatort"-Folgen fürs Fernsehen, bevor er sich verstärkt dem Kino zuwandte. Seitdem macht er spezielle Filme. Filme, die unbequem sind und deshalb oft schwer zu finanzieren, wie bei "Der vermessene Mensch".
"Es war ein langer Weg", sagt Kraume. "Und es war auch so, dass bei Partnern, mit denen wir geredet haben, auf der Suche nach finanziellen Mitteln, wir oft sehr zynische Antworten gehört haben. Es gibt eben auch Leute, die sagen: 'Och, noch ein Genozid. Schrecklich'."
In den Jahren 1904 bis 1908 ermordeten deutsche Soldaten etwa 50.000 Herero und Nama. 2021 einigte sich die Bundesregierung mit Namibia, dass Deutschland den Völkermord anerkennt - und "Wiedergutmachung" in Milliardenhöhe leistet. Seitdem ist allerdings kaum etwas passiert. Viele Opfer-Vertreter sind mit der Versöhnungserklärung nicht einverstanden – einige von ihnen gehen gegen das Abkommen auch juristisch vor.
Bewusstsein schaffen für die Kolonialverbrechen
Lars Kraume möchte mit "Der vermessene Mensch" vor allem ein Bewusstsein schaffen für das, was die Kolonialmacht Deutschland ehedem angerichtet hat. Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart. Das war auch schon bei Kraumes vorherigen Werken so – der Regisseur lässt nicht locker:
"Ja, ich habe jetzt an 'Der vermessene Mensch' drei Jahre lang jeden Tag gearbeitet", sagt Kraume. "Und wenn man das so lange machen will, dann muss man sich auch eine Geschichte aussuchen, die einen so lange interessiert."
Der Ethnologe Hoffmann und deutsche Soldaten in Deutsch-Südwestafrika - eine Szene aus Kraumes Film
Kraume hat eine Mission. Das macht ihn angreifbar. Bei der Premiere von "Der vermessene Mensch" im Berliner Kino International gab es neben viel Lob auch kritische Stimmen. Dem Regisseur wurde vorgeworfen, er erzähle eine Täter- und keine Opfergeschichte. So reproduziere er in seinem Film Rassismus und erzeuge Empathie für einen weißen Herrenmenschen.
Schwierig: Wessen Perspektive soll so ein Film einnehmen?
Wer den Film gesehen hat, kann diese Vorhaltungen nur als absurd bezeichnen, denn Kraume hat sich ganz bewusst entschieden, nicht die Opferperspektive der Nama und Herero einzunehmen. Er wolle keine kulturelle Aneignung, sagt er. Er zeige vielmehr, wie der Ethnologe Alexander Hoffmann in Deutsch-Südwestafrika Grenzen der Menschlichkeit überschreite:
"Ich wusste, am Ende ist der Typ ein Konformist und ein Monster", erzählt Kraume. "Und auch die Musik im Film ist ja sehr distanziert, die manipuliert einen nicht hin zu Mitleid oder Mitgefühl oder so was, weil das alles falsch ist. Ich wollte unbedingt, dass sich die Zuschauer ihr eigenes Bild machen."
Sein Film funktioniere mehr über den Kopf als über den Bauch, fügt Kraume noch an. "Der vermessene Mensch" ist beeindruckend unaufgeregt inszeniert, bisweilen fast schon wie ein Dokumentarfilm, aber in der Haltung gegenüber seiner fiktiven Hauptfigur unmissverständlich. Lars Kraume: "Wenn man genau guckt, was ihn wirklich antreibt, ist das sein Ehrgeiz, erfolgreich zu sein. Und für den Erfolg geben Menschen eben alles auf."
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