Der Strom kommt schon seit Wochen nicht mehr zuverlässig, aber ein großer Generator vor dem Kino "Shoften" sorgt für eine einigermaßen stabile Lage beim Filmegucken. Mitten im Krieg findet in Kiew das Dokumentarfilmfestival statt. Sasha Nabieva ist die Kuratorin: "Wegen der russischen Invasion mussten wir das Dokumentarfilmfestival verschieben. Aber wir waren entschlossen, zu versuchen, ein normales Leben aufrecht zu erhalten. Und dieses Gefühl der Normalität zu unterstützen." Sirenen beginnen zu heulen. "Wir müssen in den Luftschutzbunker", sagt Nabieva, "das sind die Sicherheitsregeln beim Festival. Das ist schon der zweite Alarm heute. Unter dem Kino ist ein Bunker."
Kultur unter Sirenen. Seit dem 24. Februar diesen Jahres herrscht nicht nur im Osten der Ukraine Krieg, sondern im ganzen Land. Er zwingt die Ukrainer in den Kampf und in einen zermürbenden Kriegsalltag. Nabieva erzählt: "Es ist sehr stressig. Der Krieg beeinträchtigt alle, es gibt niemandem, der sich diesem Einfluss entziehen kann. Deshalb ist es wichtig, sich selbst lebendig und innerhalb einer Gemeinschaft zu fühlen. Das gibt uns die Kraft, hier durchzuhalten und ein normales Leben zu führen, für das die Soldaten an der Front kämpfen."
Auslöschung ukrainischer Identität
Gespräche im Luftschutzkeller, mitten in Europa. Auch die Ukrainer hatten es bis zuletzt nicht für möglich gehalten, dass Russland angreift und einmarschiert. Von Anfang geht es in diesem russischen Krieg um die Zerstörung ukrainischer Kultur, ja um die Auslöschung ukrainischer Identität. Bibliotheken, Museen, Theater werden gezielt bombardiert. In Mariupol hatten Hunderte Zivilsten Schutz im Dramatheater gesucht, vor dem weithin sichtbar geschrieben stand: "Deti" – "Kinder". Die Russen bombardierten trotzdem.
"Dieser Krieg ist auch gegen ukrainische Identität", sagt der Schriftsteller Andrej Kurkow. Er ist Ukrainer und schreibt seine Romane auf Russisch. "Tagebuch einer Invasion" heißt sein neuestes Buch: "Russland versuchte in den letzten 300 Jahren immer die Ukrainer zu assimilieren. Mit Russifikationspolitik versuchten sie, ukrainische Sprache zu vernichten. Deshalb ist Kultur unglaublich wichtig, speziell in einem solchen Krieg. Aus der befreiten Region Cherson hat Russland mehr als 15.000 Gemälde und acht Objekte aus ukrainischen Museen gestohlen. Ein Teil der Kultur wurde gestohlen. Archive wurden gestohlen, das ist ein Krieg gegen Geschichte, gegen Kultur, gegen Identität. Das heißt, man muss auch diese gestohlene Kultur renovieren."
Worte haben ihre Bedeutung verloren
Der Krieg hat auch die Sprache verändert. Manche Wörter sind stumpf geworden, haben ihre Bedeutung verloren wie etwa das Wort "Bruder" – Putin spricht in diesem Krieg von der "Hilfe für ein Brudervolk". Andere Wörter und Redewendungen wiederum sind nahezu sakral aufgeladen wie etwa das aufrührerische Motto des romantischen Dichters Taras Schewtschenko: "Боритесь – поборете“ (Borites poborete) "Kämpft und ihr werdet siegen". Der Dichter Ostap Slyvynsky hat ein "Wörterbuch des Krieges" herausgegeben. Jeder Eintrag ist eine Momentaufnahme des Krieges. Unter dem Stichwort "Gesang" kommt eine Frau Olha aus Saporischja zu Wort: "Es ist so schön, dass wir in einer Musikschule wohnen. Ich liebe es zu singen. Sogar als wir im Keller ein Bombardement abwarteten, habe ich gesungen. Ich konnte mich an den Text aller Lieder erinnern. Wenn man versucht sich zu erinnern, will man nicht schlafen. Einschlafen macht Angst."
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