Annie Ernaux' Bücher sind eher schmal. Aber dieses ist selbst für sie ungewöhnlich dünn: 48 Seiten, luftig gesetzt. Man habe das beglückende Gefühl, der Autorin einen anständigen Seitenpreis zu zahlen, schrieb ein Kritiker zur französischen Ausgabe, die noch vor ihrem Nobelpreisgewinn erschienen ist und sofort zum Bestseller wurde. Interessanterweise als Sachbuch – so ordnen die Franzosen Ernaux' immerwährende Erforschung ihres Ich in der Gesellschaft ein.
Affäre mit einem jüngeren Mann
Auch dieses Mal verarbeitet die Königin der Autofiktion real Erlebtes. "Der junge Mann" erzählt von einer Affäre Ende der 90er-Jahre: "Er war fast 30 Jahre jünger", schreibt Ernaux, "wir sahen uns an den Wochenenden wieder, dazwischen vermissten wir uns immer mehr. Er rief mich täglich aus einer Telefonzelle an, damit seine Freundin, mit der er zusammenlebte, nicht misstrauisch wurde. (…) Allmählich entwickelte sich unser Abenteuer zu einer Geschichte, der wir beide auf den Grund gehen wollten, ohne genau zu wissen, was das eigentlich bedeutete."
Ernaux ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine bekannte Schriftstellerin. Er bewundert sie, die beiden sind mehr als ein Jahr lang ein Paar. Und die Machverhältnisse drehen sich um: Sie, die immer die Aufsteigerin aus den kleinen Verhältnissen war und zigmal darüber geschrieben hat, sie ist jetzt die Bourgeoise und er der Prolet. Sie lehrt ihn, dass man nicht das Messer in den Mund steckt, und kann großzügig zu einem Wochenende in Neapel einladen. Sie lieben sich auf einer Matratze in seiner studentisch ungeheizten Bude in Rouen – dort, wo Ernaux, als junge Frau in seinem Alter, eine Abtreibung hatte. Leserinnen und Leser der Autorin ist diese Episode schon aus ihrem Werk "Das Ereignis" bekannt.
Ernaux' Blick: Kühl und analytisch wie immer
Eifersüchtig sei er gewesen, erzählte Ernaux unlängst in einem Interview bei Radio France. Zu Unrecht, sagt sie, und trotzdem habe sie ihn auf gewisse Weise getäuscht. Für sie sei es damals um das Jetzt und das Früher gegangen, für ihn um die Zukunft.
Im Buch geht es überhaupt nur um sie. Kühl und analytisch blickt Ernaux auf ihr schon wieder verflossenes Ich, das diesmal sehr viel weniger Opfer der Verhältnisse ist als sonst. Der junge Mann erscheint schlicht als Instrument der Erinnerungsarbeit. Man konnte unsere Beziehung als Zweckbeziehung sehen", steht da etwa. "Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte." Ernaux' einstiger Geliebter wird den Text gelesen haben – und als Leserin wüsste man nur zu gerne, ob er ihn mochte.
48 Seiten: Ein Schlüssel zum Gesamtwerk?
Gleichzeitig lebendig und tot habe sie sich gefühlt durch diese intensive Rückkehr in längst durchlebte Situationen, erzählte Ernaux in besagtem Interview. Die Erinnerung an die Abtreibung sprengt schließlich die Beziehung und Ernaux beginnt, über die Abtreibung zu schreiben. Daraus wird das Buch "L'évènement", auf deutsch "Das Ereignis".
Dieses Umeinander-Kreisen und Einander-Beeinflussen der Zeitebenen ist im Grunde: Ernaux in a nutrshell. Beziehungsweise: auf 48 Seiten. Manche Kritikerinnen und Kritiker sehen in diesem Buch deshalb auch einen Schlüssel zum Verständnis ihres Gesamtwerks. Das ist hoch gegriffen, sicher kann man jedes Buch für sich lesen. Aber alle großen Ernaux-Themen – Zeit, Erinnerung, Geschlecht, Herkunft – sind da, in hochkondensierter Form zwar, aber trotzdem, wie immer, konkret, weniger Erzählung als Nachdenken.
Der schon bald nach dem Bruch entstandene Text fiel Ernaux wieder in die Hände, als sie schon 80 war. Ihn dann tatsächlich zu veröffentlichen, jetzt hervorragend ins Deutsche übersetzt von Sonja Finck, ist der bisher letzte Ernaux'sche Faden in der großen Verstrickung der Erinnerung mit dem Leben.
- Zum Artikel "Das Ereignis": Filmdrama über eine verbotene Abtreibung
Cover von Annie Ernaux "Der junge Mann", erschienen im Suhrkamp Verlag
"Der junge Mann" von Annie Ernaux ist bei Suhrkamp erschienen und kostet 15 Euro.
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