Freiwilliger Sex gegen Gunst und Aufstieg ist streitbar, ungewollter Sex als Geschäftsgrundlage beruflichen Erfolgs hingegen eindeutig ein Verbrechen. Moralisch und juristisch ist die Schuld des erzwungenen Tauschhandels "Sex gegen Karriere" wie jetzt in Hollywood erdrückend – zu entschuldigen gibt es da gar nichts mehr.
Übergriffe gegen Frauen haben in allen Gruppen, Betrieben und Branchen System: Beispiele aus Verlagen, Fernsehsendern und Medienhäusern sind ebenso bekannt und dokumentiert wie jene aus Politik, Verbänden und Konzernen – wenn die Frau nicht über fachliches Talent, sondern über ihr Körperkapital definiert wird, wenn sie sich Anerkennung und Aufstieg, Pardon: er-vögeln muss. Sexuelle Betriebs-Belästigung setzt Hierarchie voraus. Der Fall Harvey Weinstein zeigt also abermals, wie wichtig Quoten und Frauenförderung sind, um so gut wie immer ungerechtfertigte Hierarchien zwischen Männern und Frauen zu nivellieren.
Maskuliner Unwiderstehlichkeits-Glaube
Typen wie Weinstein sind Auslaufmodelle einer archaischen Männlichkeit, die im testosteronsatten Chauvinisten-Sound die Frau zur Verfügungsmasse ihrer Gelüste erklärt, zur Beute der eingebildeten eigenen Großartigkeit, als hätten sie, diese Herrschertypen, das ewige Mandat aufs Patriarchentum. Immer noch mag da unterbewusst mitschwingen, dass die Götter aller Offenbarungs-Religionen Männer waren – was beim rein mathematischen Überhang von Frauen allerdings weder einzusehen noch glaubwürdig ist.
Am Fall Weinstein ist außerdem zu studieren: Rein männliche Führungszirkel fördern nach wie vor moralische Verkommenheit, da die Geschlechtsgenossenschaft des maskulinen Unwiderstehlichkeits-Glaubens offenbar zu einer vormodernen Auffassung von Herrschen und Dienen führt. Dazu passt, dass Weinstein vermutlich nicht wegen seiner vielen Kollegen bekannten Taten vom eigenen Studio entlassen wurde, sondern wegen des Imageschadens. Erst kommt das Fressen, dann die Moral – Brecht.
Zeichen eines Wandels
Selbst diese Angst vorm Imageschaden beweist aber: In den vergangenen gut zwanzig Jahren hat eine Werte-Verlagerung stattgefunden, der zufolge wir das Wort "Verfehlung" anders einstufen als noch vor dreißig oder vierzig Jahren: nicht als lässiges Delikt eines wohlhabenden Kavaliers mit Zigarre und Schmerbauch, sondern als prinzipiellen Angriff auf die Würde des autonomen Individuums.
Erst jetzt kommen die Muster der Emanzipation des Subjekts zum Tragen – wir dulden Abwertungen nicht mehr. Die Philosophie der Dekonstruktion von Machtstrukturen, die Politik einer Aufwertung von Minderheiten und die Rechtsprechung gegen Diskriminierung aller Arten haben heute zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber Sexismus, Rassismus und anderen Formen der Ausgrenzung geführt. Täter können sich nicht mehr selbstveständlich auf Schutzräume oder Seilschaften verlassen. Deshalb ist es – neben so vielem anderen – ein Zeichen fürchterlicher Rückwärtsgewandtheit, dass Donald Trump das höchste Amt der USA besetzt. Wie Tonaufnahmen belegen, ist der primatenhafte Präsident ja ein ähnlicher Sittlichkeitsrüpel wie Weinstein.
Wie reif ist eine Gesellschaft?
In Zeiten der hysterischen Dauererregung kommen Geheimnisse schneller ans Licht als je zuvor. Zu fluid sind Informationen, zu mächtig die Mechanismen der Mediokratie selbst für machtbewusste Medienmogule. Falsche Libertinage wie übrigens auch Pädophilie bei den frühen Grünen sind zu Recht und Gott sei Dank Gegenstand politischer und ethischer Verurteilung, auch wenn wir uns erst langsam aus dem Abseits einer jahrhundertelang beglaubigten Doppelmoral hinausbewegen, mit der auch die Autoritäten der Kirchen über alle Zeiten hinweg ihnen schutzbefohlene Kinder missbrauchten.
Machtgewinn über Sexualität, von wem gegenüber wem auch immer, sind ohne Ausnahme Verletzungen von Menschenwürde und Freiheit. Und man muss kein Genderforschungs-Dogmatiker sein, um den Beginn von Sexismus und Erniedrigung bereits in der Alltagssprache aufzuspüren. Der moderne Mann aber ist auf dem Weg, sich durch Empathie und Respekt auszuzeichnen und Frauen auf Augenhöhe zu begegnen. Schließlich zeigt sich nicht zuletzt am Umgang mit Gleichstellung, Gleichberechtigung und gegenseitiger Achtung, wie reif eine Gesellschaft ist.