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"Thérèse, träumend" von Balthus

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Der Fall Balthus: Der große Unterschied zwischen Kunst und Leben

Eine Online-Petition fordert, ein Balthus-Gemälde aus dem Metropolitan Museum abzuhängen, das ein junges Mädchen in sexueller Pose zeigt. Es kann anstrengend sein, Kunst und Leben zu unterscheiden – aber es hilft. Kommentar von Beate Meierfrankenfeld

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Thérèse träumend", so lautet der harmlos-innige Titel eines Gemäldes von Balthus aus dem Jahre 1938, das im Metropolitan Museum in New York hängt. Doch harmlos ist das Bild keineswegs, sondern durchaus mehrdeutig: Zu sehen ist ein Mädchen, mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl zurückgelehnt, das mit angewinkeltem Bein den Blick auf seinen Slip unter dem Rock freigibt. Fast noch ein Kind – in einer sexuell aufgeladenen Pose.

Der Unterschied zwischen Kunst und Leben

Genau das ist nun Anlass für eine Online-Petition unter dem Titel "Remove Balthus' Suggestive Painting of a Pubescent Girl". Abhängen also? Natürlich steht der Fall im Kontext der aktuellen Debatte um sexuelle Übergriffe – auch die Petition selbst stellt diesen Zusammenhang her. Doch hier geht es nicht um Vorwürfe an reale Personen wie bei den unter dem Hashtag #MeToo und anderswo sehr zu Recht öffentlich gemachten Vorwürfen. Hier geht es um ein Bild.

Kunst - das Als ob, statt Realität

Damit ist nicht gesagt, dass Kunst und Leben nichts miteinander zu tun hätten. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden – und der liegt gerade in ihrem Wirklichkeitsstatus oder ihrem Wirklichkeitsverhältnis. Kunst schafft eine eigene Realität, ein großes "Als Ob" mit eigenen Regeln, sie ist auch ein Ort für unsere Fantasien und Obsessionen, unsere dunklen Seiten. Und hat sich in ihrer langen Geschichte gerade davon freigekämpft, moralisch sein zu müssen. Das Entscheidende ist: Richtig verstanden, behauptet die Kunst nicht, was sie mache, ließe sich auch im Leben machen.

"Reality Hunger" der Kunst, Fiktionalisierung des Lebens?

Durch die gegenwärtige Konjunktur des Dokumentarismus in vielen Kunstsparten – autobiografische Literatur, dokumentarisches Theater, Kino mit authentischer Handkamera-Ästhetik – ist dieser Unterschied aus dem Blick geraten, sogar ein bisschen in Misskredit. 2010 veröffentlichte der US-Autor David Shields ein Manifest unter dem Titel "Reality Hunger", ein großes Plädoyer für nicht-fiktionale Kunst und "bewusste Unkünstlichkeit": Gerade in Zeiten von digitaler "Fiktionalisierung" von Lebensläufen und Profilen "lechze" die Kunst nach Wirklichkeit und wolle "all dem Fabrizierten etwas Nichtfiktionales entgegenstellen", so Shields in seinem Buch.

Fiktion - keine schöne Lüge!

Sich die immer wieder geäußerte These von der Fiktionalisierung des Lebens und den Begriff der Fiktion genauer anzusehen, kann tatsächlich hilfreich sein, um zu verstehen, worum es geht: Fiktion wird häufig als "schöne Lüge" oder als raffinierter Schwindel betrachtet – eben weil sie nicht sagt, wie es ist oder wie es sein soll. Ihr Clou ist aber, dass sie genau das auch gar nicht will. Und das unterscheidet sie eben von all den Inszenierungen des eigenen Lebens in der Netzkultur. Die mögen noch so schräg oder noch so kalkuliert sein – sie wollen ganz unbedingt und sehr verbissen ein Bild der Wirklichkeit zeigen: "So bin ich!", lautet die Botschaft, die natürlich nicht selten sehr durchschaubar scheitert oder einem schönen Selbstbetrug aufsitzt. In Bezug auf Fiktion aber macht die Rede von Irrtum oder sanfter Fälschung schlicht keinen Sinn. Genau das ist ihr großer Freiheitsgewinn: Fiktion muss nicht die Wahrheit sagen und kann trotzdem einfach nicht lügen.