Normative Theorie – Axel Honneth ist da nicht schüchtern. Der Sozialphilosoph ist schließlich einer der wichtigsten Denker der Frankfurter Schule, ein Erbe Adornos, ein Schüler von Habermas, einer, der sich noch zutraut, Theorie und Praxis zusammenzuknoten. In seinem neuen Buch tut er das entlang der Frage, wie Arbeit aussehen muss, um der arbeitenden Bevölkerung politische Partizipation zu ermöglichen. Nicht nur eine demokratietheoretisch unterbelichtete, sondern, nach Honneths Meinung, auch eine politisch unzeitgemäße Frage. "Die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit" habe sich nämlich "schon seit längerem deutlich von der Sphäre der Arbeit abgewandt", klagt er.
Arbeit als Motor der Demokratie
Auf den ersten Blick ist dieses Lamento ziemlich absurd. Ist nicht Arbeit in aller Munde? Grundeinkommen, Care-Arbeit, Arbeitszeitverkürzung, Quiet Quitting – die Stichworte sind bekannt, die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten wollen, wird seit längerem schon rauf- und runterdiskutiert. Aber eben nicht so, wie Axel Honneth sich das wünscht. Ihm geht es ja nicht um die Frage, wie wir arbeiten wollen, um Sinn oder Selbstverwirklichung – sondern darum, wie wir arbeiten sollen, und zwar unter der Bedingung, dass die Arbeit dazu beiträgt, uns zu mündigen, zu politisch aktiven Staatsbürgern zu machen. Honneth vertritt also die These "einer wechselseitigen Abhängigkeit von demokratischer Partizipation und hinreichend guten Arbeitsbedingungen".
Das wiederum ist auf den ersten Blick ziemlich plausibel. Schließlich verbringen wir die meiste Zeit unseres Lebens mit Arbeit. Dass dieser Erfahrungsraum also Einfluss auf unser Selbstverständnis hat, auch auf unser Selbstverständnis als mündige Bürger, versteht sich von selbst. Tricky wird es bei der Frage: Wie genau sieht dieser Einfluss aus? Für Honneth stehen vor allem zwei Aspekte im Vordergrund.
Gut gebaut und argumentativ ausdauernd
Erstens: Arbeit ist integrativ. Sie sei ein kultureller "Schmelztiegel", schreibt Honneth, bringe uns also mit Menschen anderer Backgrounds zusammen. Und nicht zuletzt vermittle sie uns ein Bewusstsein für die Bedeutung von Kooperation. Und zweitens: Arbeit ist ein Ort der Anerkennung jenseits der privaten Bubble, eine Quelle sozialer Geltung, das wusste schon Hegel. Dass Familie und Freunde mich wertschätzen, schön und gut, aber erst die Anerkennung durch Fremde stiftet das Selbstvertrauen, im öffentlichen Raum die Stimme zu erheben.
Soweit zumindest die Theorie, beziehungswiese: Utopie unserer Arbeitswelt. Denn: "Die soziale Realität sieht anders aus". Immer noch, schreibt Honneth, sei die Arbeitswelt geprägt von "Unterordnung, Unterbezahlung oder Überforderung". Also: Ausbeutung statt Anerkennung, Konkurrenz statt Kooperation, Vereinzelung statt Vergemeinschaftung – zumal seit dem Entstehen der New Economy in den Achtzigern. Das klingt in dieser Verkürzung etwas holzschnittartig, Honneth schlüsselt das alles aber bewundernswert sorgfältig und argumentativ beharrlich auf. Überhaupt ist das neben ihrer luziden Struktur eine große Qualität seiner Studie.
Überzeugt von der sozialen Energie von Arbeit: der Sozialphilosoph Axel Honneth
Gegen das bedingungslose Grundeinkommen
Schließlich zieht er jedenfalls das Fazit, dass die Sphäre der Arbeit eine "krasse Gegenwelt zum Erfahrungsraum der demokratischen Öffentlichkeit bildet". Salopp gesagt: beim Arbeiten verlernen wir Demokratie. Eigentlich also keine schlechte Idee, sein Heil jenseits von ihr zu suchen (also der Arbeit nicht der Demokratie). Stichwort: bedingungsloses Grundeinkommen. Genau das lehnt Axel Honneth aber interessanterweise ab. Sein Argument: "Wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung stillgelegt wird, erlischt auch der letzte Funken des Bestrebens, sich um die Nöte und Sorgen aller anderen zu kümmern, weil keinerlei notwendige Verbindungen mehr zu ihnen besteht".
Da ist es wieder da, dieses enorme Zutrauen zur integrativen Kraft, zur sozialen Energie von Arbeit. Fast romantisch klingt Honneth an solchen Stellen. Und man fragt sich, ob er den Stellenwert von Arbeit an dieser Stelle nicht etwas überschätzt. Zwar würde Honneth nicht soweit gehen, in ihr eine hinreichende Bedingung für das demokratische Engagement der arbeitenden Bürgerinnen und Bürger zu sehen. Ihren potentiell konstruktiven Beitrag setzt er aber ziemlich hoch an ("Einübung in die Praktiken des demokratischen Zusammenwirkens").
Sozialphilosophische Politikberatung
Diese Arbeitsemphase zu belächeln, wäre allerdings ziemlich wohlfeil. Denn erstens bringt Honneth – zumindest mit Blick auf die aktuelle Debatte – eine wirklich neue Perspektive auf Arbeit ins Spiel. Zweitens bereitet er dieser Perspektive von Hegel ausgehend ein solides philosophisches Fundament – ja, diese eleganten ideengeschichtlichen Überflüge sind fast das Beste an diesem Buch. Und schließlich ist er ungeheuer produktiv darin, seine Idee einer demokratieförderlichen Arbeitswelt auszubuchstabieren. Immerhin ein Drittel des Buches besteht in der Skizze einer neuen "Politik der Arbeit", sozialphilosophische Regierungsberatung sozusagen, ganz in der Tradition der Frankfurter Schule. Honneth denkt hier z.B. an genossenschaftliche Modelle. Aber auch an staatliche Dienstverpflichtungen nach dem Vorbild von Wehr- und Zivildienst.
Ein wenig befremdet vielleicht der paternalistische Sound ("Einübung..."), der in manchen Formulierungen mitschwingt – auch wenn die Pointe schön ist: Gerade der starke Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger zum Wehr- oder Sozialdienst heranzieht – gerade dieser Staat produziert den arbeitenden Souverän. Abhängigkeit als Bedingung von Autonomie. Hegel hätte das gefallen.
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"Der arbeitende Souverän" von Axel Honneth ist bei Suhrkamp erschienen und kostet 30 Euro.
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