Der Autor in Porträt
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Schriftsteller Vladimir Sorokin

    Debatte über Kriegsschuld: "Russen sind ernsthaft krank"

    Der russische Autor Vladimir Sorokin ist überzeugt, dass nicht nur Putin und sein Regime für den Angriff auf die Ukraine verantwortlich zu machen sind. Auch die Verbrechen Stalins hätten die Russen nicht bereut - das Böse stecke im Unterbewusstsein.

    Mit diesen teils polemischen Ansichten wird der russische Autor Vladimir Sorokin (67) wohl nicht nur in seinem Heimatland für Aufregung sorgen. In einem Gespräch mit dem im Ausland erscheinenden Portal "Currenttime" antwortete er auf die Frage, ob die Russen insgesamt für den Angriff auf die Ukraine verantwortlich seien: "Diese Schuld wird in der Tat wachsen, und wir werden sie nach dem Ende des Krieges mit uns herum tragen. Wir Russen werden alle den bitteren Kelch zu leeren haben. Jeder wird einen Stein auf seinem Rücken tragen. Welches Gewicht und welche Größe - das wird schon jeder für sich selbst bestimmen. Aber natürlich sind wir alle schuld. Nicht nur Putin und sein Team."

    "Ukrainer kämpfen mit Zombies der Vergangenheit"

    Wie unter Stalin gebe es auch unter Putin "Millionen Russen", die ähnliche Vorstellungen wie diese Machthaber hätten - "mit dem gleichen Bewusstsein und der gleichen Ethik und dem gleichen Vokabular". Anders als in der Ukraine habe es in Russland auch nie eine Literatur gegeben, die die Verbrechen der Vergangenheit aufgearbeitet habe: "Der Russe scheint zwischen Erinnerungen und Hoffnungen zu schwanken. Er lebt nicht in der Gegenwart, er fühlt sie nicht. Für die Ukrainer gilt das viel weniger, deshalb haben sie den [Aufstand vom] Maidan bekommen, und sie haben diese Sowjetmacht abgeschüttelt, um ein wahres Leben zu führen. Sie erkämpften sich das Wahlrecht. Dafür kämpfen sie jetzt mit den rebellischen Zombies der Vergangenheit."

    Zur psychischen Verfassung der russischen Bevölkerung sagte Sorokin, der für Romane wie "Der Schneesturm" und "Telluria" bekannt ist, alle traumatischen Erfahrungen aus der sowjetischen Ära seien "ins Unbewusste gedrängt" worden, niemand habe daran gerührt. Dort sei die Schuld "verrottet", jetzt quelle der "Eiter aus der Wunde": "Es gab kein kollektives Bewusstsein, keine Reue für die Verbrechen des Bolschewismus. Es gab keine kollektive Selbstbehandlung. Nach dieser Verwundung winkten sie ab und sagten: 'Wir sind gesund.' Und so geht es immer weiter. Aber es stellte sich heraus, dass sie krank waren, ernsthaft krank."

    "Früchte einer unbehandelten Krankheit"

    Putins Propaganda habe sich dieses unbewältigte Trauma zunutze gemacht: Die Kriegsverbrechen von Bucha seien sinnbildlich ein Resultat der Verdrängung: "Es ist das pure Böse, das aus den Tiefen des kollektiven Unbewussten aufgestiegen ist. Niemand behandelte die Verletzung, wie sie zum Beispiel in Deutschland behandelt wurde. Sie brauchten dort zwanzig Jahre, um sich zu heilen. Und wir ernten die Früchte einer unbehandelten Krankheit. Absurd!"

    Im vergangenen November hatte die Sozialforscherin Ljubow Borusjak nach eigenen Angaben rund 1.300 "gebildete Dissidenten" in Russland befragt, was sie von einer "Kollektivschuld" der Russen für den Krieg hielten. Ergebnis: Weniger als fünf Prozent teilten Sorokins Ansicht. Weitere zehn Prozent waren der Meinung, dass "eher etwas dran" sei an der kollektiven Verantwortung. Rund sechzig Prozent wiesen eine "Kollektivschuld" weit von sich: "Sie stimmen nicht damit überein, dass das Verlassen Russlands die Last der Verantwortung von den neuen Ausgewanderten nimmt und dass sie für diejenigen, die bleiben, höher ist."

    In einem Interview mit "Radio Liberty" fasste Borusjak ihre Analyse so zusammen: "Die einen leugnen generell die Kollektivschuld und die Kollektivverantwortung, sie glauben, dass Schuld nur individuell sein könne, sonst entbindet das die wirklich Schuldigen von der Verantwortung. Andere leugnen die kollektive Verantwortung nicht, betonen aber, dass sie sowohl für die Bleibenden als auch für die Ausgereisten gleich sein sollte, manche von denen unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von anderen. Sie ärgern sich darüber, dass, wenn es in der Theorie so ist, es tatsächlich in der Praxis anders sein wird: Alle kollektive Verantwortung fällt auf die, die bleiben."

    "Russischer Staat im Krieg mit der Gegenwart"

    Im russischen Exil-Sender "Holod" sagte die Künstlerin Sascha Starost, sie halte nichts von einer "Selbstgeißelung" der Russen und die Vorstellung von einer "Kollektivschuld" sei "mittelalterlich": "Im Ernst, der russische Staat befindet sich wirklich im Krieg mit der Gegenwart, er verbreitet das Archaische wie eine Infektion, wohin er auch geht. Aber wir müssen zumindest eine Art fortschrittliche Gemeinschaft haben, die für eine Wiedergeburt sorgen kann, wenn auch langfristig. Wenn wir jetzt alle die archaische Welt verinnerlichen und anfangen, nach ihren Gesetzen zu leben, dann hilft uns kein Machtwechsel bei der Bewältigung des Problems." Jedenfalls seien "Scharen von Flagellanten" diesbezüglich nicht hilfreich.

    "Im Allgemeinen ist Selbstgeißelung eine Form des Handelns in völliger Abwesenheit von Eigenverantwortung", so Starost: "Denn wenn ich mich einerseits als den furchtbarsten Sünder der Welt verstehe, ist das in keinster Weise korrigierbar, andererseits trage ich eine riesige Verantwortung. Alles durch eigene Schuld." Solche Art der "Buße" sei nichts als ein leeres "Ritual", meint die Therapeutin und Publizistin, und ändere am Kriegsverlauf gar nichts: "Um zu arbeiten, muss man sich zumindest ab und zu zerstreuen, seine Aufmerksamkeit auf andere Themen lenken, aufhören, sich Vorwürfe zu machen, aber das verträgt sich nicht mit dem Ethikkodex."

    "Staat verantwortet sich nicht vor Gesellschaft"

    In der "Nowaya Gazeta Europe" schreibt Publizist Sorin Brut in einem aufschlussreichen Essay: "Das Putin-Regime ist ein System der totalen Verantwortungslosigkeit. Verantwortung, einschließlich kollektiver Verantwortung, muss man sich verdienen." Der Krieg sei eine Folge davon, dass die russische Gesellschaft nicht gelernt habe, "sich massenhaft und konsequent für ihre Machthaber zu verantworten", und der Staat habe umgekehrt nicht die Absicht," sich vor der Gesellschaft zu verantworten". Brut nennt das eine "doppelte Entfremdung". Dass eine "Kollektivschuld" abwegig sei, darüber gebe es Einverständnis, was aber nicht heiße, dass es keine "Kollektivverantwortung" gebe.

    Dass die allermeisten Russen schwiegen und lethargisch seien, sei kein Wunder: "Macht ist in Russland etwas fremdartiges, sie ist unzugänglich und hat sehr wenig mit den Menschen gemeinsam." Es habe durchaus mal Ansätze für einen "bürgerlichen Patriotismus" in Russland gegeben, der sei von der Propaganda in den letzten Jahren aber weitgehend eliminiert worden: "Es scheint, dass er in Russland helfen würde, viele sowjetische Traumata loszuwerden. Vor allem Uneinigkeit und Misstrauen, die jedes gemeinschaftliche Handeln lähmen. Und er würde das Land seinen Bewohnern zurückgeben. Nein, natürlich hatten wir bürgerlichen Patriotismus (es gibt ihn, nur in einer stark minimierten Form). Aber er hat nie eine systematische und durchschlagskräftige Entwicklung erhalten."

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