Es gibt immer mehr digitale EPs, also Mini-Platten, ein Zwischending aus Single und Langspielplatte. Klar, immer weniger Menschen nehmen sich die Zeit ein ganzes Album anzuhören. Aber es steckt noch mehr hinter dieser Entwicklung. Wenn Sie Fans von Superstars wie Lizzo oder Bands wie Khruangbin sind, ist Ihnen das vielleicht schon aufgefallen: Diese und andere Künstlerinnen veröffentlichen ihre Musik auf Streaming-Plattformen nach dem Wasserfall-Prinzip.
Musikalische Mini-Mode: Das Wasserfall-Prinzip
In der Konsequenz bringt dieses Prinzip eine Kultur der Mini-Platten hervor. Das Internet ist voll mit Videos, die das Waterfall-Prinzip darlegen und man nach dem Anschauen so ein Gefühl bekommt, als habe man gerade einen David Copperfield-Zaubertrick erklärt bekommen.
Nehmen wir den Lizzo-Hit von 2022: "About Damn Time". Der wurde insgesamt dreimal auf Spotify veröffentlicht. Zuerst als einzelner Song. Dann ein zweites Mal auf der nächsten Lizzo-Single "Grrrls" und schließlich noch einmal ein drittes Mal auf einer EP zusammen mit zwei Remix-Versionen von "About Damn Time". Auf diese Weise bestimmen KünstlerInnen eben selber, was die Streaming-Nutzer als nächsten Song zu hören bekommen. In Lizzos Fall eben noch einmal das Original von "About Damn Time", das dank Wasserfall-Strategie noch mehr Klicks und Streams sammelt und den Hit noch bekannter macht.
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Eine Single und ein Album veröffentlichen war gestern. Nur das tröpfchenweise Verfüttern neuer Alben in aufgeblähten Single- und EP-Formaten und damit ein kontinuierlicher Veröffentlichungsstrom sorgt dafür, dass man als Musikerin auf Streamingportalen permanent heraussticht und nicht im Meer des Vielen absäuft.
Dank TikTok: Immer mehr Sleeper-Hits
Nach Layla war diese Nummer der zweiterfolgreichste Song 2022 in Deutschland: "Heat Waves" von den Glass Animals aus Großbritannien. Das Lied stammt ursprünglich aus dem Sommer 2020, ist also eigentlich uralt und trotzdem zwei Jahre später der erfolgreichste nichtdeutsche Song des Jahres? Ein echter Sleeper-Hit, ein schlafender Hit. Und schuld daran ist die erfolgreichste Social Media Plattform derzeit: TikTok.
Wenn man den Zahlen glauben will, wurde TikTok 2022 von mehr Leuten genutzt als der Suchmaschinenriese Google. Musik ist für die 15-30-sekündigen TikTok-Videos ja vor allem "nur" eine akustische Tapete für die visuelle Selbstinszenierung. Wenns gut läuft, dann wird ein Tiktok-Video ein Hit, geht viral – und damit auch der Song dahinter, der dann wiederum auch in Nachahmer-Videos genutzt wird, und so weiter ... Der erfolgreichste Song auf TikTok 2022 war übrigens: "Ginseng Strip 2002" vom schwedischen Rapper Yung Lean. Der Song ist bereits neun Jahre alt. Ein regelrechter Langschläferhit.
2023 drohen Social Media Burnouts
Es ist schon eigentlich ziemlich irre: Nicht Musikstreamingdienste wie Spotify oder Deezer haben gerade die größte Wirkmacht im Musikmarkt, sondern das bereits erwähnte TikTok, eine Social Media-Plattform. Und TikTok wird auch 2023 eins der wichtigsten Vermarktungstools der Musikindustrie bleiben. Was bedeutet das für Stars? Die sollen schön brav die Fans kontinuierlich mit kleinen viralen Momenten auf Tiktok anfüttern, um darin dann – so ganz nebenbei – diesen oder jenen neuen Song zu präsentieren.
- Zum Artikel Wie süchtig macht TikTok?
Es gibt schon erste MusikerInnen, die keine TikTok-Sklaven sein wollen und diese neuen Werbemechanismen kritisieren und boykottieren. Die US-Sängerin Halsey hat sogar extra ein TikTok-Video hochgeladen, in dem sie das Social-Media-Sklaventum anprangert. Und die Liste prominenter Nachahmerinnen wird länger: Florence Walsh von "Florence + The Machine" oder Santigold haben sich auch schon entsprechend geäußert und vor den Gefahren eines Phänomens gewarnt, das als Social Media Burnout bezeichnet wird.
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