Symbolbild: religiöse Manipulation
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Symbolbild: religiöse Manipulation

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"Das ist Gottes Wille" - Was bedeutet geistlicher Missbrauch?

"Geistlicher" Missbrauch kann schwerwiegende seelische Folgen haben. Denn falsch verstandene Spiritualität kann vergiften. Diese besondere Form des Missbrauchs wird jetzt in den katholischen Kirchen neu wahrgenommen.

Manches klingt harmlos oder nur kurios – und kann doch gewaltige psychische Folgen haben: Der Schulleiter eines katholischen Internats in Ingolstadt bläute einem Haufen neunjähriger Buben ein, dass alle Frauen böse seien. Lediglich die Jungfrau Maria sei gut und rein. 1974 wurde einer der Schüler mit dieser Aussage konfrontiert. Er zuckte zusammen, dachte an seine Mutter, seine Schwester – bis heute ist dem Mann, der anonym bleiben möchte, dieser Satz präsent.

Ähnliche Geschichten erzählen auch andere im Gespräch mit dem BR, wenn es um "geistlichen Missbrauch" geht: So erinnert sich eine Frau daran, wie ihre Tante Nonne wurde. Diese hatte als Katholikin in den 50er-Jahren einen evangelischen Freund. Für die Mutter war das Grund genug, die Tochter ins Kloster zu stecken – ein traumatisches Erlebnis nicht nur für sie selbst, sondern auch für die ganze Familie.

Forschungsgruppe zu religiös-spirituellem Machtmissbrauch

Mit dieser Form des religiös motivierten seelischen Zwangs, der als geistlicher Missbrauch bezeichnet wird, beschäftigt sich die katholische Kirche jetzt erstmals deutschlandweit. Ende 2022 haben die katholischen Bistümer Münster und Osnabrück eine Forschungsgruppe der Universität Münster beauftragt, spezielle Formen von Machtmissbrauch in religiös-spirituellem Zusammenhang zu untersuchen.

An der Universität Regensburg forscht die Theologin Ute Leimgruber zu solchen Fällen. Sie kennt Beispiele von Machtmissbrauch durch geistliche Vertraute, die viel Leid und sogar Psychosen hervorgerufen haben – zum Beispiel, weil sie große Angst vor der Hölle schürten. Viele der Betroffenen berichten Ute Leimgruber von Kontrollverlust. Sie erklärt, warum es nicht einfach ist, sich zu wehren: Den Betroffenen werde vermittelt, sie würden sich nicht gegen den Täter wehren, sondern gegen Gott selbst auflehnen. "Es wird so tief in die innere Autonomie, ins Gewissen eines Menschen eingedrungen, dass es kaum Möglichkeiten gibt, auszusteigen. Viele der Opfer sagen: Ich wusste nicht mehr, wer ich bin."

Angst vor der Hölle, überzogener Gehorsam und der Wille Gottes

Die Ausmaße des Phänomens liegen noch weitgehend im Dunkeln. In der Psychologie wird damit schon lange gearbeitet. Klassiker wie das Aufarbeitungsbuch falsch verstandener Frömmigkeit "Gottesvergiftung" des Psychoanalytikers Tilmann Moser haben schon in den 1970er-Jahren Furore gemacht. Was vor hundert Jahren gängige religiöse Pädagogik war – etwa das Motto "Gott sieht alles" – ist heute längst als "schwarze" Pädagogik entlarvt.

Doch Begriffe, Symbole, Gewohnheiten sind tief in kirchliche Praxis eingewoben und wurden längst noch nicht überall kritisch überprüft. Besondere Schwierigkeit dabei: Wo genau geistlicher Missbrauch anfängt – die Grenzlinien zeichnen die Betroffenen selbst. Ute Leimgruber weiß, wann man hellhörig werden sollte: "Wenn zum Beispiel ein Seelsorger oder eine Seelsorgerin sagt, er oder sie weiß, was der Wille Gottes ist und deswegen solle sich eine bestimmte Person so oder so verhalten. Wenn Kritik unmöglich ist, das ist ein Hinweis."

Das Bistum Münster hat hier eine Checkliste mit kritischen Anzeichen für geistlichen Missbrauch veröffentlicht. Sie beinhaltet Punkte wie Abschottung und Isolation, eine leistungsorientierte Frömmigkeit und ein überzogenes Gehorsamskonzept. Oft beginnt dies schleichend.

Sexueller Missbrauch meist verknüpft mit spirituellem Missbrauch

Spannend ist, in welchem Verhältnis geistlicher Missbrauch zu anderen, insbesondere körperlichen Formen des Missbrauchs steht. Ute Leimgruber sagt dazu: "Im Bereich der Kirche sollte klar sein, dass spiritueller Missbrauch auch ohne sexuellen Missbrauch stattfindet. Sexueller Missbrauch hingegen ist im kirchlichen Zusammenhang fast immer durch spirituellen Missbrauch oder mit spirituellem Missbrauch verknüpft."

Anlaufstellen gibt es bislang in erster Linie für Opfer von sexuellen Übergriffen. Das Bistum Münster hat hier eine Telefonnummer für ein Beratungsgespräch bei geistlichem Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht. Betroffene hoffen, dass das Thema auf der diesjährigen Bischofskonferenz zur Sprache und so zu mehr Aufmerksamkeit kommt.

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