Die Wiederbegegnung mit der alten Familie in der Provinz birgt im Stück von Jean-Luc Lagarce‘ Stück „Das ferne Land“ natürlich Konfliktpotential, und tatsächlich entzünden sich die Dialoge an den entsprechenden Reibungspunkten. Wer da nun aber meint, die Handlung steuere auf Eskalation zu, sieht sich getäuscht. „Das ferne Land“ erzählt – auch ohne massive Ausbrüche – vom Scheitern menschlichen Miteinanders, aber auch der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Es geht um alltägliche Probleme, und dabei doch um elementare Fragen nach der Bedeutung von Liebe und Nähe im Leben und im Tod.
Jean-Luc Lagarce: Eine Entdeckung für das deutsche Theater
Louis, die Hauptfigur des Stücks, trägt stark autobiografische Züge des Autors. „Das ferne Land“ ist Lagarce‘ letztes Stück, er schrieb es im Wissen um den nahen Tod. Er starb 1995, mit nur 38, an Aids. In Frankreich gehört er zu den meistgespielte Dramatiker, hierzulande kennt man ihn allenfalls, weil sein Stück „Einfach das Ende der Welt“ von Xavier Dolan verfilmt und 2016 in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Als Theaterautor gilt es Lagarce noch zu entdecken, und allein dafür gebührt Regisseur Nicolas Charaux und dem Münchner Volkstheater Dank, dass sie den ersten Schritt dazu unternommen haben.
Aufregende Unaufgeregtheit
„Das ferne Land“ ist ein scheinbar unspektakulärer, und doch aufregender Text, der danach fragt, was Menschen aneinander bindet, wieso sie engen Banden entfliehen wollen – oft vergeblich, und häufig nicht minder erfolglos Bindungen suchen, die ihnen Halt geben in diesem kleinen, kurzen Leben. Nicolas Charaux inszeniert das im trostlos leeren Bühnenraum von Pia Greven anfangs als eine Art Familienaufstellung, in der sich Louis‘ zwei Familien wechselseitig beobachten und die Verstorbenen wie selbstverständlich unter die Lebenden mischen.
Bestechende Ensembleleistung
Später verwickelt Charaux die Schauspieler in rätselhafte Choreografien, in einer surrealen Sequenz scheinen Tote und Lebende unter bunten Glühlampen ein gemeinsames Fest zu feiern, Blumen werden in Gruppen in den Bühnenboden gepflanzt, aber man weiß nicht so recht, sind es Frühlingsbeete oder Grabfelder. Das alles wirkt einfach, aber nie eindeutig, zugleich aber auch nicht beliebig, und passiert mit unaufgeregter, Selbstverständlichkeit, die einem beim Zuschauen gleichwohl immer wieder den Atem raubt, weil man spürt, dass es hier um nichts weniger als alles geht. Um das ganze Leben. Getragen wird das von einer bestechenden Ensembleleistung. Wenn Gregor Knop als Louis an dieser Stelle herausgehoben sei, dann nur, weil bei seiner Figur die Fäden von Lagarce‘ Beziehungsknäuel zusammenlaufen. Es ist die Hauptrolle, die aber keineswegs umfangreicher ist als alle anderen. Knop erinnert von der Physiognomie an den jungen Woody Allen, aber ohne dessen fahrige Gestik, dafür mit oft irrlichternden Augen, die vergebens Halt suchen, und mit hilflos vom Leib gespreizten Händen. Eine Körperhaltung, in der sich eine konsternierte Verlorenheit ausdrückt, und in der sich verdichtet, was Lagarce über unser Menschsein erzählt. Was für ein trauriger Anblick. Und doch liegt darin etwas Tröstliches und: beträchtliches Theaterglück.