Cyndi Lauper, inzwischen 64, ist einer der großen Pop-Star der Achtziger und eine Ikone der Schwulenbewegung in Amerika. Kein Wunder also, dass Drag-Queens die Hauptrolle in ihrem neuen Musical spielen. 2013 startete "Kinky Boots" am Broadway, 2015 übernahm London und gestern war die Deutschlandpremiere im Hamburger Operettenhaus, mitten auf dem Kiez an der Reeperbahn. Das Singspiel hat alle amerikanischen Awards eingeheimst, die es in dieser Kategorie gibt.
Das Firmenschild blättert schon ab
Auf der Bühne eine Schuh-Manufaktur mit Patina - "Price and Son" in Northampton, englische Provinz. Ein Dutzend Angestellte stellt hochwertige Herrenschuhe her. Draußen blättert das Firmenschild bereits ab. Die kleine Fabrik hat ganz offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen. Das Ganze könnte in den Achtzigern spielen, als der gesamte Weltmarkt langsam von gigantischen chinesischen Schuhfabriken mit ihrer Billigware überschwemmt wurde.
Konsonantenstarkes Deutsch
Also erst einmal kommt "Kinky Boots" mit haufendicker Globalisierungskritik. Der Chor besingt die Schuhe von "Price und Son" als "das wohl reichste Wunder der Wee-heelt" und die Gentrifizierung Northamptons, einer Stadt etwa 100 Kilometer von London entfernt, mit den Worten: "Wo früher ein Pub, da ist jetzt ein Handyshop und dahinter bloß noch ein Appartmentblock". Leider stellt die Pressestelle von Stage Entertainment nur die englische Fassung der Kinky-Songs zur Verfügung, so dass hier nicht gezeigt werden kann, wie das neue Musical in ordentlichem, perfekt artikuliertem, konsonantenstarkem Deutsch klingt.
Erbaulich, brav, beinahe fromm
Sehnsüchtig denkt man an Stefan Gwildis, der ein paar Häuser weiter auf der Reeperbahn auch eine Show hat, wie er es nur schafft, die deutsche Sprache so weich zu kneten, ihr die Härten abzunuscheln, so dass sie sogar Soul-fähig wird. Aber hier: Die Minuten dehnen, ziehen, schleppen sich. Die Gedanken schweifen ab zu einem Kirchentag in Hamburg, einem erbaulichen Musical zum Lob des Herrn. Auch im Operettenhaus ist es erbaulich, brav, beinahe fromm. Hier heißt die Religion: Selbstverwirklichung. In den Worten von Dominik Hees, der die Rolle des Schuhfabrik-Erben Charlie Price singt:
Es gibt absolut eine Message, die der Zuschauer mitnimmt und das ist eben das Leben zu feiern und sich selbst und die Menschen, die man um sich hat zu akzeptieren, so wie sie sind. Und alle Lebensformen zu akzeptieren, sie man um sich hat.
Seltsame Sinnsprüche
So regnet es Lebenshilfe und seltsame Sinnsprüche erreichen unser Ohr. Etwa der hier: "Du kannst dein Ziel nicht im Rückspiegel sehen. Aber dann geht die Tür auf und Lola betritt die Bühne". "Kinky" heißt ein bisschen verrückt. Oh ja, wir sind bereit. Ein Ruck geht durchs Publikum. Lola ist groß, er ist schokoladenbraun, er hat wunderbar runde Muskeln an den Armen, ebenso am Po und an den Waden. Er trägt einen rot glitzernden Mini und schwindelerregend hohe Schuhe. Sein Gesicht ist klassisch schön, ernst, melancholisch in einem Moment und raubtierhaft sexy im nächsten. Mit einem Wort: Der Mann ist eine Sexbombe.
Verruchte Stiefel
Lola, verkörpert von dem niederländischen Musicaldarsteller Gino Emnes, braucht Kinky Boots, verrucht glitzernde schenkelhohe Stiefel, in denen er und seine Tanztruppe aus weiteren sechs Drag-Queens auf der Bühne tanzen können. Die, die er bislang trug, taugen nichts. Die Absätze brechen zu schnell. "Price and Son" stellt also die Produktion biederer Herrenhalbschuhe ein und besetzt die Nische "Schuhwerk für Drag-Queens". Chefdesignerin Lola rettet den Laden.
"Frauen greifen daneben"
Das ganze Musical lebt vom Auftritt Lolas. Ihrem Sex-Appeal, ihrer Frechheit, ihrem Charisma. Eigentlich war ihr wohl auch die Aufgabe zugedacht, den restlichen Cast zu inspirieren, aber der macht weiter wie bisher. Mit einer komplett ausstrahlungsfreien, gnadenlos perfekten Art zu singen. Und der leider vollkommen verständliche deutsche Text gibt einem den Rest: Frauen greifen immer mal daneben. Das war schon immer so. Vielleicht ist er ja der nächste Griff ins Klo, singt eine kleine Blondine, die es auf den Schuh-Fabrikanten Charlie Price abgesehen hat.
Sex hat mit Entfesselung zu tun
Was bleibt von diesem Abend: Das Erstaunen darüber, dass sich 40 Jahre nach dem Musical "Rocky Horror Show", dem "Kinky Boots" einiges abgeschaut hat, die verwirrende erotische Wirkung von Drag-Queens immer noch nicht erschöpft hat. Weder auf die Autorin dieser Zeilen noch auf den ganzen vollbesetzten Saal des Hamburger Operettenhauses am Spielbudenplatz auf der Reeperbahn. Lola erinnert daran, dass Sex was mit Entfesselung zu tun hat. Ihre unbändige Lebensenergie rettet das Stück, denn sie ist echt.