"Nach Corona ist vor der Therapie" - ARCHIV - 13.07.2021, Berlin: Eine Frau steht in ihrer Wohnung an einem Fenster. Baden-Württemberg verzeichnet nach Angaben der Krankenkasse DAK einen landesweiten Rekord an Arbeitsausfällen durch psychische Erkrankungen
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"Nach Corona ist vor der Therapie" - ARCHIV - 13.07.2021, Berlin: Eine Frau steht in ihrer Wohnung an einem Fenster.

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Die Seele nach Corona - Wie die Pandemie-Zeit aufarbeiten?

Drei Jahre, nachdem die ersten Corona-Maßnahmen ergriffen wurden, wird die Forderung nach Aufarbeitung lauter. Denn die Maßnahmen haben Wunden bei den Menschen hinterlassen, haben Freunde, Familien und die Gesellschaft gespalten. Ist jetzt die Zeit?

Es sei ein Fehler gewesen, die Schulen so lange zu schließen - das sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und das sagt auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek. Welche Narben und Wunden die Pandemie aber darüber hinaus in Familien, unter Freunden, bei Einzelnen hinterlassen hat - der Diskurs darüber beginnt gerade erst.

Landesbischof: "Ich bin Menschen etwas schuldig geblieben"

"Wir sind Menschen etwas schuldig geblieben, ja, ich auch persönlich bin Menschen etwas schuldig geblieben", sagt Bayerns Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm drei Jahre, nachdem die ersten strengen Maßnahmen gegen das Coronavirus beschlossen worden waren, im Gespräch mit dem BR.

Er sei sich aber auch bewusst, hätte er etwas anderes propagiert, "dann hätte ich möglicherweise den Tod von Menschen mitverantwortet, deren Angehörige auch um sie getrauert hätten." Dieses Dilemma treibe ihn noch immer um. "Ich habe Verantwortung getragen, ich habe die Regeln mitgeprägt, die da gelten", so der Landesbischof weiter.

Es brauche eine Aufarbeitung der Pandemiejahre. Dabei gehe es nicht um Schuldzuweisungen oder ein Aufrechnen im Nachhinein, die Menschen müssten wieder ins Gespräch kommen und sich gegenseitig zuhören – und zwar, ohne das Leid des anderen zu bewerten oder abzuwerten. "Vergebung ist ein dynamischer Prozess, das ist etwas, was zwischen Menschen passiert." Wenn Menschen ihr Leiden auf den Tisch legen würden, könne am Ende vielleicht auch so etwas wie Vergebung stehen, "aber wegreden von schwerem Leid, das darf es auf gar keinen Fall sein".

Prantl: Demonstranten nicht mit Leugnern und Neonazis gleichsetzen

Für Heribert Prantl, Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung, gehört zu den Verletzungen, die während der Pandemie passiert sind, auch der Umgang mit Demonstranten. Die seien schnell unter Generalverdacht gestellt worden. "Ich denke, die Mehrheitsgesellschaft sollte Leute, die womöglich ungelenk, oder vielleicht auch maßlose Kritik üben, nicht in eine Reihe mit radikalen Corona-Leugnern oder mit Neonazis stellen."

Mit dem Ende der Pandemie seien längst nicht alle Probleme, die sich gezeigt hätten, verschwunden, sagt Prantl. Er sieht das Ende der Corona-Maßnahmen als "Anlass zur Selbstbesinnung, zur – wenn man das christliche Wort nehmen will – zur Gewissenserforschung." Es sei ein Anlass, zu prüfen, was gut und was falsch gelaufen sei im Umgang mit der Pandemie. Es reiche nicht, zu sagen, im Großen und Ganzen habe man bis auf ein paar Kleinigkeiten alles richtig gemacht, aber "in der Hitze des Gefechts konnten wir nicht anders". Das reiche ihm nicht, so der Jurist Prantl.

Die juristische Aufarbeitung vieler Klagen hat inzwischen begonnen: Das Bundesverwaltungsgericht hat die strengen Ausgangsbeschränkungen in Bayern im April 2020 inzwischen als nicht rechtens beurteilt. Auf BR-Anfrage kann allerdings das bayerische Gesundheitsministerium nicht beziffern, ob und wie viele Bußgelder infolge der Ausgangsbeschränkungen bereits zurückgezahlt worden sind. Untersuchungsausschüsse kümmern sich außerdem um die Frage, inwiefern sich manche bei Tests und Maskendeals bereichert haben. Darüber hinaus sind Wunden und Narben entstanden, die kein Gerichtsurteil und keine Entschädigungszahlungen heilen können.

Wunsch nach mehr Graustufen und weniger Schwarz-Weiß-Denken

Es habe eine Spaltung der Gesellschaft gegeben, konstatierte der Zeithistoriker René Schlott bereits im Dezember 2022 im Interview mit dem BR. "Im Übrigen ist es auch so, dass das Vertrauen in Medien gesunken ist in den letzten drei Jahren, also auch Medien sollten selbstkritisch zurückblicken."

Ranga Yogeshwar ist einer, der das macht. Die Wochenzeitung "Die Zeit" druckte im Januar 2023 unter der Überschrift "Unsere Corona-Fehler" Texte von Politikern, Medienschaffenden, Wissenschaftlern und anderen Verantwortungsträgern. Darin fragt sich der Wissenschaftsjournalist Yogeshwar unter anderem, ob er nicht energischer zu Corona-Toten recherchieren hätte müssen und wer nun an oder mit Corona gestorben sei. "Im Nachhinein frage ich mich: War die Statistik so unklar, weil Kliniken im einen Fall mehr abrechnen konnten als im anderen?"

Im Interview mit dem BR sagt Ranga Yogeshwar, dass in der Pandemie viel zu sehr schwarz-weiß gedacht wurde. Auch in den Medien fehlten ihm die Graustufen in den Diskussionen und das gegenseitige Zuhören und Voneinander-Lernen. "In Talkshows erleben wir sehr oft, dass Gäste eingeladen werden. Jeder hat seine Position, und bedauerlicherweise am Ende der Talkshow ist das genauso geblieben."

Ethiker schlägt Versöhnungskommission vor

Ins Gespräch kommen, einander wieder mehr zuhören - das fordern auch Heribert Prantl und der bayerische Landesbischof, und das wünscht sich auch der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock. Er bringt eine Aufarbeitungs- oder Versöhnungskommission ins Spiel.

Allerdings betont der evangelische Theologieprofessor, es brauche ein differenziertes Hinschauen: "Wenn ich frage: Was ist falsch gelaufen, muss man sagen, stelle ich diese Frage, indem ich mich noch mal zurückversetze in die Situation von damals und habe ich damals nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt? Und unter den Wissensbedingungen von damals, war das okay oder nicht okay?" Die Frage, was künftig zu verbessern sei, müsse auf dem heutigen Wissensstand beantwortet werden. "Und das darf man nicht vermischen, weil es sonst zu Schuldzuweisungen kommt, die uns nicht helfen bei der jetzt anstehenden Aufarbeitung." Die Folge sei unfaires Blaming.

Und dennoch räumt auch Dabrock ein: Auch schon während der Pandemie habe es Entscheidungen gegeben, die nach dem damaligen Standard geradezu "widersinnig" gewesen seien - etwa als darum ging, dass Bundesligaspieler wieder spielen durften, bevor alle Kinder zurück in der Schule gewesen seien.

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