Kennen Sie das Großvater-Paradoxon? Es geht so: Ein Mensch reist in die Vergangenheit. Dort bringt sie oder er den Großvater um, also einen direkten Vorfahren. Nur - löscht der Mensch, der aus der Zukunft kommt und mordet, damit auch sich selbst aus? Das Großvater-Paradoxon wird in "Tenet" öfter erwähnt. Wohl als Beleg dafür, dass die Wechsel zwischen den verwirrenden Zeitebenen sowieso keine stringente Logik besitzen und man als Zuschauer im Kino besser gar nicht damit beginnen sollte, darüber nachzudenken. Ob Zeitreise genannt oder Inversion oder Umkehrung: In "Tenet" laufen Zukunft und Gegenwart aufeinander zu, bis sie sich treffen. Das bedeutet dann das Ende der Welt. Verursacht wird dieses inversive Paradoxon von einem fiesen russischen Milliardär, dessen Handeln von Allmachtsphantasien bestimmt ist. An Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, will er die Menschheit mit in den Abgrund reißen, auch, weil er glaubt, dass diese sowieso versagt habe.
Mitreißende Mischung aus Action und raffinierter Erzählstruktur
Visuell funktioniert die Inversion in "Tenet" etwa so: Kugeln werden nicht geschossen, sondern mit einer Pistole aufgefangen, bis sie wieder im Magazin sitzen. Faszinierend, aber letzten Endes zweitrangig. Denn vor allem gilt es den Untergang des Planeten zu verhindern. Zwei Männer wollen das versuchen, John David Washington, der Sohn von Denzel Washington, sowie Robert Pattinson, der Star aus der "Twilight"-Saga. "Tenet" begeistert trotz stereotyper Gut-Böse-Muster und eines klassischen Weltbedrohungsplots als raffinierte Mischung aus den "Mission Impossible"-Filmen und den James-Bond-Abenteuern. Regisseur Christopher Nolan variiert klug in strukturellen Details. So wird der Spezialagent hier von einer Doppelspitze verkörpert. Washington & Pattinson geben quasi ihre Visitenkarte ab für eine kommende 007-Bewerbung. Auch im Sinne der allgegenwärtigen Genderbalance hält Nolan einige Überraschungen parat. Vor dem Hintergrund von Corona ist "Tenet" ganz auf der Höhe unserer verrückten Zeit. Die reale Bedrohung des Lebens durch ein winziges Virus schwingt irgendwie mit, so offen hat Nolan die Geschichte angelegt. In der temporalen Zange der Inversion bewegt sich seine Doppelspitze, bis sich jeder als Figur aus der Zukunft selbst gegenübersteht.
Neue Zeitebene: John David Washington und Robert Pattinson
Hoffnungsträger für die Kinobranche
"Tenet" ist der erste potentielle Blockbuster nach dem Lockdown. Ein Versuchsballon, der zeigen soll, ob das Kino als Ort trotz Corona weiter funktioniert. Nolan, der leidenschaftliche Cineast, tut alles dafür: Er hat jede Szene präzise und zwingend inszeniert. Über die 150 Minuten bleibt der Zusehende gebannt dran, auch wenn im letzten Drittel manches redundant erscheint. Man wünschte sich noch mehr von seinen visuell poetischen Zeitskulpturen – von rückwärtsfahrenden Schiffen oder aufspritzenden Pfützen, deren Wasseroberfläche sich wieder schließt, bevor jemand hineintritt. Etwas weniger Pyro- und Tricktechnik mit den vielen finalen Explosionen wäre mehr gewesen. Aber das stört nicht, denn Nolan präsentiert großes Überwältigungskino, das man mit dem knackig wummernden Soundtrack im Kino bis in jede Pore des Körpers spürt. "Tenet" jetzt zu starten, ist ein Wagnis, bei dem man sich wünscht, dass es von möglichst vielen Menschen mit dem Kauf eines Tickets unterstützt wird. Ob von jung oder alt, von Enkel oder Großvater.
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