Archivbild von 2006 Dieter Henrich
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Der Philosoph Dieter Henrich ist tot.

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"Bürgerlicher Philosoph": Zum Tod von Dieter Henrich

Dieter Henrich war einer der weltweit renommiertesten deutschen Philosophen seiner Generation. Ein wichtiger Deuter des Deutschen Idealismus, der sich auch der analytischen Philosophie öffnete. Nun ist er im Alter von 95 Jahren in München gestorben.

Anders als der ähnlich greise Jürgen Habermas hat sich Dieter Henrich ziemlich sicher nicht für Twitter interessiert. Es wäre interessant gewesen, was er zu all dem gesagt hätte, was dort seit Monaten abgeht. Und nein – es geht ausnahmsweise nicht um Elon Musk, sondern um einen veritablen Bubblebeef. Seit einer Weile tobt auf Twitter nämlich ein Grabenkampf zwischen Vertreterinnen und Vertretern der sogenannten analytischen und einer eher historischen Ausrichtung von Philosophie. Der Ton ist ätzend., die Fronten klar. Derweil hat Dieter Henrich, der erst in Heidelberg, dann in Harvard und schließlich in München lehrte, schon vor mehr als 50 Jahren gezeigt, dass beides auch zusammengeht, ja, zusammengehen muss: Argument und Geschichte. Klarheit und Kontext. So gesehen war Henrich ein Versöhner – und einer der überzeugt davon war, dass die Philosophie keine abstrakten Sachfragen klärt, sondern an die Grundfragen des Lebens rührt.

Philosophie stellt die grundsätzlichen Fragen des Lebens

"Dein Leben steht infrage und auf der anderen Seite: Alles, was ist, wird infrage gestellt. Dein Leben, dieses kleine da, vergängliche. Das Ganze, der Kosmos, mehr als der Kosmos, das ist es, in dem Du einen Ort haben musst und den willst du fassen. Und es gibt nichts anderes als die Philosophie, die dem gerecht werden kann. Die Philosophie ist eine Bemühung, die dem Menschen eigentümlich ist", so Dieter Henrich.

Bei ihm sei "alles Wesentliche immer auch persönlich" gewesen, hat Henrich in seinen Erinnerungen notiert. Empfindlich dafür, dass die eigene Bildungsbiografie nicht nur mit Lehrplänen zu tun hat, nicht nur mit den Texten, die man liest – sondern auch und vor allem mit den Menschen, die man trifft. Oder die um einen werben. Auch das erfährt man aus der Autobiographie. Wer sich da nicht alles in den Fünfzigern um den jungen Hochbegabten riss: Heidegger, der versucht Henrich zu einem seiner Jünger zu machen – genauso wie dessen Antipode Adorno, der ihn als "wahres Wunderkind" umschmeichelt. Der – so Henrich – "rattenfängerischen Rhetorik" Adornos und der glühenden Intensität Heideggerscher Blicke hat er sich allerdings entschieden entzogen. Er war eben auch ein Angehöriger einer Generation, der die Erfahrung des Nationalsozialismus eine Grundskepsis gegen alles Verkünderische eingepflanzt hatte. Übrigens auch gegen den prophetischen Gestus, mit dem später die 68er auftraten.

Sein methodisches Baby: die Konstellationsforschung

Henrichs Mentor und väterlicher Förderer wird schließlich Hans-Georg Gadamer. Der große Demütige zwischen den Renommierdenkern. Der Mann, das Verstehenwollen, das unbedingte Sicheinlassen auf Text und Kontext zur philosophischen Methode gemacht hat. Stichwort: Hermeneutik. Wie sehr Henrich dadurch geprägt wurde, erkennt man noch in dem, was er später Konstellationsforschung nannte. Sein methodisches Baby. Sein Schlüssel um all den dunklen Texten, die der deutsche Idealismus rund um Hegel, Schelling und Hölderlin produziert hatte, auf die Schliche zu kommen.

Auch hier kommt die Einsicht zum Tragen, dass das "Wesentliche immer auch persönlich" ist. Dass auch der Deutsche Idealismus aus einer Freundschaft herauswuchs. Was lasen sie, und worüber sprachen sie? Stück für Stück hat Henrich die Fäden freigelegt, an denen das Denken der drei Tübinger Stiftler ins Tanzen kam. Und das so überraschen transparent, dass er dafür sogar in Harvard gefeiert wurde – einem Ort, der zumal in den Siebzigern der Begeisterung für klassische deutsche Philosophie eher unverdächtig war.

Einer der letzten Vertreter der alten Ordinarienuniversität

Die große Allgemeinheit hat Henrich mit seinem Denken nie erreicht. Anders als andere seiner Generation. Habermas etwa, mit seinem kritischen Nachdenken über Öffentlichkeit. Oder Robert Spaemann, mit seinen regelmäßigen Einlassungen zu Moralfragen. Als "bürgerlichen Philosophen" hat sich Henrich selbst bezeichnet. Verstand sich mehr als Gelehrter denn als Intellektueller. Obwohl auch er an öffentlichen Debatten teilnahm – etwa mit seiner Anfang der Neunziger erschienenen "Ethik zum nuklearen Frieden". Sein natürliches Habitat blieb jedoch die Uni.

Mit Henrich geht einer der letzten Vertreter der alten Ordinarienuniversität. Einer der letzten vom Typus akademischer Sonnenkönig. Schon Anfang der 70er ärgerte er sich derart über die Reform der Universitäten, dass er der SPD den Rücken kehrte. Von Bologna war da noch lang keine Rede. Natürlich wirkt das von heute ausgesehen ein bisschen aus der Zeit gefallen. In gewisser Weise ist Henrich schon jetzt eine historische Figur. Aber auch eine, deren so umsichtiges Verstehenwollen heute so Not tut wie je. Nicht nur auf Twitter.

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