Was für eine Blamage für den Kreml: Noch vor kurzem hatte der Gouverneur von Brjansk geprahlt, wie großartig die Grenze zur Ukraine befestigt worden sei: "Das ist ohne Übertreibung fortschrittlich. Da kommt keine Maus mehr durch." Jetzt überwanden offenbar knapp fünfzig Mitglieder eines rechtsextremistischen "Russischen Freiwilligenkorps", das auf Seiten der Ukraine kämpft, alle Hindernisse und marodierten durch zwei grenznahe Dörfer. Wie sie den Weg durch die Minenfelder überwanden ist unklar, jedenfalls kamen sie unbeschadet nach Russland und wieder zurück in die Ukraine.
Die Überwachungskameras an der Grenze sollen sie mit Drohnen "blind" gemacht haben. In russischen Telegram-Kanälen wird behauptet, die Kämpfer hätten ein Auto mit Schulkindern gestoppt, Geiseln genommen und ein Umspannwerk und eine Tankstelle gesprengt. Die Tatorte liegen über zwanzig Kilometer voneinander entfernt.
"Einerseits sind wir Russen, andererseits nicht"
Was genau geschah, werden die russischen Behörden wohl nicht mitteilen. Der zuständige Gouverneur Alexander Bogomaz bestätigte zwei Todesopfer, laut russischen Sicherheitsbehörden wurden "große Mengen Sprengstoff" gefunden, eine "Minenräumung" sei im Gange. Die zeitweise kolportierte Entführung von rund 100 Geiseln erwies sich als Fake-News. Putin sprach bei einem Online-Treffen mit Lehrern von einem "terroristischen Akt": "Sie sind in das Grenzgebiet eingedrungen und eröffneten das Feuer auf Zivilisten." Er bezeichnete die Täter als "Neonazis", die Russland "zerquetschen" werde.
In den gut informierten Telegram-Kreisen und im Recherche-Netzwerk "Agents" wird darauf verwiesen, dass die dubiose Truppe vom international bekannten Rechtsextremisten und Kampfsport-Organisator Denis Kapustin angeführt wird, der sich "Denis Nikitin" nennt und zeitweise in Deutschland lebte. In einem ziemlich verquasten Manifest des im Sommer letzten Jahres gegründeten "Russischen Freiwilligenkorps" heißt es wörtlich: "Einerseits sind wir Russen, andererseits nicht." Putins autoritäre Regierung wird als "kriminelles Regime" beschimpft, die Gruppe sei gegen "imperialen Chauvinismus" und setze sich für "echte Brüderlichkeit" mit der Ukraine ein, wolle aber keinen "Zusammenbruch" des russischen Staates.
In der Hooligan-Szene des 1. FC Köln
Denis Kapustin soll vor einigen Jahren das rechtsextreme Mode-Label "White Rex" gegründet haben: "Mit seinem Label verkaufte er nicht nur Kleidung, sondern organisierte auch Kampfsportturniere. Mit diesen Events vernetzte sich die internationale rechtsextreme Szene und professionalisierte ihre Gewalt. In Deutschland war er beim 'Kampf der Nibelungen' involviert. Dieser ist seit 2019 behördlich verboten", heißt es in einer Analyse des ZDF. Demnach kam Kapustin 2001 als Flüchtling nach Köln und fiel dort mit aggressivem Verhalten in der Hooliganszene des 1. FC Köln auf. Im Schengen-Raum soll Kapustin zehn Jahre Einreiseverbot haben.
"Rote Farbe scheint uns ausgegangen zu sein"
Inzwischen lebt Kapustin unter dem Kampfnamen Nikitin offenbar in der Ukraine, von wo aus er jetzt seine spektakuläre Partisanen-Aktion startete. Zur Ironie gehört dabei, dass der Neonazi und seine Getreuen auf der gegenüberliegenden russischen Seite ebenfalls auf rechtsextremistische Kreise treffen. Sie regen sich in erster Linie über die Grenzverletzung auf und werfen dem Kreml vor, die Bevölkerung nicht mehr ausreichend zu schützen. Der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin tobte, es gebe für Putin offenbar schon lange keine "roten Linien" mehr, nur noch braune: "Die rote Farbe scheint uns ausgegangen zu sein."
Der Kreml und die russischen Behörden der Region Brjansk stehen unter erheblichem Druck, nachdem in den vergangenen Tagen zahlreiche Drohnen-Angriffe auf russische Städte fern der Front für Schlagzeilen sorgten, wobei bisher nicht bekannt wurde, ob es sich um Geschosse aus der Ukraine handelt. Das Telegram-Portal Rybar mit 1,1 Millionen Followern schrieb zur "Sabotage" der Kapustin-Truppe: "Eines der Ziele solcher Aktionen ist es, ein Bild der Widersprüche innerhalb der russischen Gesellschaft zu zeichnen. Von hier aus verbreiten die Opposition und westliche Medien aktiv Berichte, dass der Angriff angeblich von russischen Bürgern ausgeführt wurde, die mit der Politik der russischen Behörden nicht einverstanden sind." Tatsächlich aber werde alles von den ukrainischen Geheimdiensten gesteuert, behauptet Rybar.
"Putin handelt nicht gern unter Druck"
Neben Kapustin soll auch der russische Neonazi Alexej Kosjemjakin an der Grenzverletzung beteiligt gewesen sein. Er wurde in Russland nach Angaben von Rybar wegen Messerstecherei, Extremismus und Vandalismus zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere Beteiligte sollen der rechtsextreme Yogalehrer Kirill Kanakin ("Kyrill von Rhodos") sein, sowie der russische Ex-Polizist Oswald Lemok.
Unter russischen Militärbloggern ist die Aufregung groß: Offenbar schrecke die Ukraine nicht mehr vor "Provokationen" zurück. Politologe Sergej Markow wertet das Ganze als "Werbeaktion für das Russische Freiwilligenkorps". Er schätzt die Zahl der Extremisten in Russland auf potentiell rund 15 Millionen oder zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, wie überall. Realistischer Weise könnten die Neonazis bis zu 100.000 Russen auf ihre Seite ziehen: "Die Aktion im Gebiet Brjansk wird also in anderen Gegenden Nachahmer finden. Und auf jeden Fall wird etwas in Moskau passieren." Putin, so Markow, werde erst mal "keine sofortige Antwort" geben: "Weil er nicht gerne unter Druck handelt. Und was soll er auch tun?" Auch der Politologe selbst hält "Vergeltungsschläge" für nicht erforderlich.
"Was sind das dann für Russen?"
"Es ist klar, dass sie Panik erzeugen wollen", heißt es bei prominenten Kriegsberichterstattern. Alexander Kots von der "Komsomolskaja Prawda" verlangte, die Ukraine als "terroristischen Staat" einzustufen. Kollege Semjon Pegow ("Wargonzo") sprach von einem "Informations-Jihad". Der Kreml-Propagandist und TV-Korrespondent Jewgeni Poddubny schrieb mit absurder Logik: "Alle Russen sind auf unserer Seite. Und wenn sie auf der Seite des Feindes stehen, was sind das dann für Russen?" Die Ukraine sei für Russland jetzt so etwas Ähnliches wie das islamistische Terrornetzwerk al-Qaida.
Die Propagandisten toben, jetzt dürfe es "keine Gnade" mehr geben, nur "totale Zerstörung": "Das Böse ist auferstanden. All das wird so lange weitergehen, bis der russische Bär von einem verschlafenen Bären, der träge mit der Pfote wedelt und bei jedem Schlag etwas knurrt, sich in eine reißende Bestie verwandelt. Ein Bär, der wildes Entsetzen auslöst und den Feind schon bei einem Seitenblick in seine Richtung zerreißt", wie es Kolumnist Dmitri Popow in den "Moskowski Komsomolez" ausdrückte. Angesichts der massiven Schwierigkeiten an der Front dürfte der Spielraum des Kreml für irgendwelche "Racheaktionen" allerdings äußerst gering sein.
"Eher PR-Kampagne als Sabotage"
Die russischen "Ultra-Patrioten" müssen sich eher fragen lassen, ob sie selbst die von ihnen befürchtete "Panik" in den Grenzregionen nicht nach Kräften schüren. Der extremistische Sender "Tsargrad" schaltete einen Live-Blog, in dem mit Alarmrufen im Minutentakt jedenfalls nicht gegeizt wurde. Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow rief nach der Einführung des Kriegsrechts.
Im liberalen, gelegentlich kremlkritischen "Kommersant" ist halb ironisch zu lesen: "Obwohl das, was passierte, eher einer PR-Kampagne als einer Sabotage und einem terroristischen Überfall glich, nahmen die russischen Behörden es mehr als ernst." Aus der Ukraine hieß es lapidar, die Angelegenheit sei eine "klassische russische Provokation": "Habt Angst vor euren eigenen Partisanen."
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