Es ist ein Urteil, das viele als wegweisend deuten: Am 28. Juni dieses Jahres hat der Bundesgerichtshof eine Frau freigesprochen, die ihrem Mann eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hatte. Der schwerkranke Mann hatte die Frau um die Tat gebeten und war dabei bei vollem Bewusstsein - deshalb ordnete der BGH die Handlung der Frau als Beihilfe zum Suizid ein – und nicht als aktive Sterbehilfe. Die ist in Deutschland eigentlich strafbar.
"So kann man sagen, dass sogar die aktive Sterbehilfe zwar noch per Gesetz verboten ist, in der Rechtsprechung aber nicht mehr. Damit haben wir eigentlich eine sehr große Rechtssicherheit", sagt Michael Frieß. Er leitet die Abteilung Gesundheit und Sozialpsychiatrie bei der Diakonie München und Oberbayern. Das Urteil im Insulin-Fall macht für ihn deutlich, in welche Richtung sich die Gesetzgebung In Deutschland entwickeln wird. Für die Einrichtungen der Diakonie ist bislang aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 maßgeblich. Damals wurde das Verbot der Beihilfe zum Suizid gekippt und das selbstbestimmte Sterben als allgemeines Persönlichkeitsrecht eingestuft.
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Diakonie: Wir werden den Zugang für Sterbehelfer nicht verbieten
"Es kommt für uns überhaupt nicht in Frage, dass ein Mensch, der in einem unsrer Häuser wohnt, dieses Grundrecht nicht nutzen darf", so Frieß. Assistierter Suizid werde also in Häusern der Diakonie in Bayern möglich sein. "Nicht wir werden hier als Sterbehelfer tätig sein, aber wir werden die Menschen, die einen Sterbewunsch haben, begleiten, offen mit ihnen sprechen." Frieß kann sich auch vorstellen, Kontakt zu Sterbehilfeorganisationen herzustellen. "Und wir werden den Zugang zu unseren Häusern für Sterbehelfer nicht verbieten."
Diese Praxis begründet Frieß mit Erfahrungswerten aus der Schweiz. Dort habe sich gezeigt, dass das Ernstnehmen von Suizidwünschen sogar Leben retten kann. "Wenn bislang der Krebs mein ganzes Restleben bestimmt, fühle ich mich ohnmächtig. In dem Moment, wo ich weiß, es gäbe einen Ausweg, fühlen die Menschen, dass sie es wieder selbst in der Hand haben, selbst entscheiden können. Und das gibt ihnen so viel Kraft, dass sie dann den Weg in den allermeisten Fällen ohne Suizid durchstehen."
Das natürliche Sterben zulassen
Dass Suizidwünsche ernst genommen werden, fordert auch Joseph Raischl. Er ist Direktor des Christophorus Hospizvereins in München. In seinen Häusern fährt er trotzdem eine ganz andere Linie: "Unser Angebot ist ja nicht, Suizidhilfe zu leisten. Das war es noch nie und dabei bleiben wir auch. Unser Angebot konzentriert sich darauf, Menschen zu einer möglichst guten Lebensqualität zu verhelfen. Das schließt eine möglichst optimale Kontrolle von Symptomen, also von Schmerzen ein. Und wenn jemand entscheidet, ich möchte einen Abbruch von medizinischen Behandlungen, dann gilt es, das zu unterstützen und zu respektieren."
Forderung nach Gesetz zur Suizidprävention
In Deutschland gebe es für Todkranke tendenziell eine Übertherapie, kritisiert Raischl. Es falle schwer, selbst hochbetagte Menschen sterben zu lassen. Oder zu akzeptieren, wenn sie nichts mehr essen und trinken wollen. Immer wieder würden Pflegeheimbewohner in so einem Fall in die Psychiatrie gebracht. Raischl fordert deshalb, den natürlichen Tod zuzulassen. Gleichzeitig gelte es frühzeitig zu erkennen, ob jemand einsam oder verzweifelt ist, um ihm ein Gesprächsangebot zu machen. So gehe man in den Hospizen des Christophorusvereins vor. Joseph Raischl sieht keine Lösung darin, todbringende Substanzen zu legalisieren. Stattdessen fordert er – und damit ist er sich mit Michael Frieß von der Diakonie einig - die Bundesregierung müsse viel mehr in Suizidprävention investieren. Doch bis ein Gesetz zur Regelung der Sterbehilfe verabschiedet wird, dürfte angesichts des Ukraine-Kriegs und der Energiekrise noch einige Zeit ins Land gehen.
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