Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
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"Botschaft aus der Ukraine": Selenskyjs Reden und ihre Wirkung

Ein Buch versammelt einige der bedeutendsten Reden des ukrainischen Präsidenten, die der seit Kriegsbeginn gehalten hat – die wohl wichtigste dauerte keine Minute. Doch wie kommen Selenskyjs Ansprachen und Durchhalteparolen bei den Ukrainern an?

"Ich wäre der glücklichste Mensch der Welt, wäre das Buch, das Sie in Händen halten, nie veröffentlicht worden", schreibt Wolodymyr Selenskyj im Vorwort zu seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Botschaft aus der Ukraine". Tatsächlich ist das Buch eine Folge des russischen Angriffskrieges. Es versammelt einige der Reden, die der ukrainische Präsident seit Ausweitung des russischen Krieges am 24. Februar gehalten hat. Wolodymyr Selenskyjs wichtigste Ansprache war zugleich auch seine kürzeste. Sie dauerte etwa zweiunddreißig Sekunden und besagte: "Wir sind alle hier. Wir alle sind hier und verteidigen unsere Unabhängigkeit." Starke, klare, unmissverständliche Worte. Wie kommen sie bei den Ukrainern an?

"Eigentlich fehlen für den Krieg die Worte"

Eigentlich, so formulieren es viele ukrainische Schriftsteller, fehlen für den Krieg die Worte. Wie soll man sie beschreiben, diese existenzielle Ausgesetztheit? Wie dieses monströse Verbrechen in Worte fassen? Unterdessen schreiben jedoch alle: Posts auf Facebook, Berichte von der Front, Gedichte und Tagebücher. Es gilt schließlich, Zeugnis abzulegen über das, was in der Ukraine passiert. Und es gilt, Aufmerksamkeit zu generieren. Denn, so mahnt jetzt Wolodymyr Selenskyj im Vorwort zu seinem Buch "Botschaft aus der Ukraine": "Vergessen Sie die Ukraine nicht. Werden Sie der Ukraine nicht überdrüssig. Lassen Sie nicht zu, dass unser 'Mut' aus der Mode kommt."

16 Reden und Videobotschaften hat der ukrainische Präsident zu einem Buch zusammengestellt: Ein beeindruckendes Zeugnis nationaler Selbstbehauptung in Zeiten des Krieges, der totalen Überrumpelung mit Gewalt. Sie war ein Schock und hinterlässt tiefe Spuren, wie ein Soldat in einem Kiewer Cafe erzählt: "Ich war noch nie im Krieg. Als neben mir die ersten Bomben und Raketen explodiert sind, war das schrecklich. Nach Explosionen in deiner Nähe hörst du für einige Wochen schlecht. Außerdem bist du vollkommen erschöpft. Es ist dieser Rhythmus: Wir mussten vier Stunden laufen, dann zwei Stunden schlafen, dann wieder laufen. Der Winter und die ständige Angst vor Attacken zermürbten uns zusätzlich. Nach zwei Wochen in diesem Rhythmus hast du das Gefühl, du wirst verrückt. Ich konnte nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden."

Selenskyjs Reden sind oft leidenschaftliche Appelle

"Als der Winter endete, kam kein Frühling", brachte es Wolodymyr Selenskyj in seiner Rede zu Ostern unaufgeregt auf den Punkt. Seine Reden sind daher oft leidenschaftliche Appelle an die Welt, die Ukraine mit Luftabwehrsystemen zu unterstützen. Zu Recht, sagt die Kiewer Schriftstellerin und Fotografin Yevgenia Belorusets. Gerade Deutschland habe sich viel zu lange bitten lassen.

"Es gab tausende Gründe, warum das nicht passieren sollte und jetzt sehen wir, dass das doch passieren kann", sagt Belorusets. "Und das sind sehr, sehr viele Leben von Zivilisten, die durch diese Verspätungen verloren gehen. Und je länger man wartet, je länger man zögert, je vorsichtiger man ist, desto mehr unterstützt man eigentlich ein autoritäres Regime, das eigene demokratische Kräfte erwürgt und umbringt. Desto schlimmer wird unsere gemeinsame Realität."

Den Russen warf der ukrainische Präsident schon am 24. Februar eine wichtige Frage zu: "Möchten die Russen Krieg? (…) Es ist an Ihnen zu antworten, den Bürgern der Russischen Föderation."

Seine Reden werden zugleich Waffen im Krieg

Das Schweigen der russischen Mehrheit bis heute – monströs. Selenskyjs Reden sind auch Waffen in diesem Krieg. Der Präsident musste der Ukraine erst einmal eine Stimme geben, die die Welt zu Unterstützung anspornt. Mal mehr, mal weniger geschickt verknüpft er dabei das Schicksal seines Landes mit der Geschichte oder Kultur der Angesprochenen. Vor dem britischen Parlament etwa rekapituliert der ukrainische Präsident die ersten dreizehn Kriegstage und ruft dann die Hamlet-Frage auf: Sein oder Nichtsein. Unsere Antwort ist eindeutig. "Sein" und frei sein.

Die Wucht von Selenskyjs Reden entfaltet sich in ihrem Realismus, im Register eiserner Kausalität. Gerade deshalb können sie die Erschütterungen, die von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ausgehen, so eindringlich beschreiben. Selenskyjs Zusammenhalt-Sieg-Ukraine-Pathos holt die Ukrainer durchaus ab, es gibt ihnen Selbstvertrauen und das Gefühl, zusammenzustehen, stark zu sein.

Was in den Ansprachen fehlt

Dass die Ukraine indes ein vielstimmiges und in vielem widersprüchliches Land ist, kein einheitlicher Block, kommt in den Reden nicht vor. Auch eine Folge des Krieges, bedauert Ewgenija Belorusets: "Es werden Prozesse initiiert, auch in der Gesellschaft, die vielleicht ohne Krieg überhaupt nicht stattfinden würden. Wenn viele Pluralitäten verschwinden, wenn man sich einigt und schützt. Und die Ukraine, die für Putin so irritierend war, eine demokratische, eine vielfältige, mehrsprachige, komplexe Ukraine, leider genau diese schönen Seiten des Landes werden am meisten angegriffen und leiden am meisten auch wegen der von selbst laufenden Prozessen. Man sucht Werte, die schützen können und das sind keine friedlichen Werte. Hinter Hass kann man sich ein wenig verbarrikadieren, hinter der Idee der Einigung, die eigentlich nicht allererste Eigenschaft der Ukraine war, aber man sollte diese Grundlage für eine sehr starke Einigung finden, denn man fühlte sich plötzlich als Ganzes attackiert."

Tatsächlich werden alle in der Ukraine attackiert: Der Winter ist da, die Temperaturen spielen weit unter Null, es gibt aber weder Licht noch Wasser oder Heizung, weil Putin gezielt die Infrastruktur attackiert.

Eine Internationale Geberkonferenz hat heute in Paris gut eine Milliarde Euro für die Ukraine zugesagt.
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Eine Internationale Geberkonferenz hat heute in Paris gut eine Milliarde Euro für die Ukraine zugesagt.

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