Die von russischen Angreifern zerstörte Stadt Butscha
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Die von russischen Angreifern zerstörte ukrainische Stadt Butscha, Aufnahme vom 03.04.2022.

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Blutspur der Menschen und Tiere: Marcel Beyer über Butscha

Butscha: Symbol des russischen Krieges in der Ukraine. 458 ermordete Zivilisten. Im Buch "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha" setzt sich Autor Marcel Beyer mit der medialen Vermittlung des Krieges auseinander.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Butscha ist so etwas wie der Ground Zero des russischen Krieges in der Ukraine, sein Symbol und Maß. "So schlimm wie in Butscha war es bei uns nicht", hört man Ukrainer aus Tschernihiv oder Izjum sagen – der Versuch, Gräueltaten und Obszönitäten einzuordnen. Evgen Spirin, Chefredakteur des Online-Magazins "Babel", war einer der ersten, der nach der 33 Tage anhaltenden russischen Besatzung nach Butscha kam.

"Plastiksäcke, die sie extra mitgebracht hatten"

"Als wir hier am 2. April ankamen, waren die Straßen voller Leichen", sagt er. "Vom 3. bis 25. März hielt das Morden an. Sie durchkämmten die Häuser, richteten Menschen hin und packten sie in Plastiksäcke, die sie extra mitgebracht hatten. Ich weiß nicht, warum sie die einen einpackten, die anderen nicht, die meisten Menschen lagen ja auf den Straßen."

Die Fotos der Leichen mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen gingen um die Welt. Russland führt seinen Krieg gegen die Ukraine überhaupt vor den Augen der Welt – es ist mit Videos, Fotos, Reportagen, Combat Footage oder Drohnenaufnahmen der wohl am besten dokumentierte Krieg. Eine Herausforderung für Schriftsteller: Wie verhält man sich zur medialen Verarbeitung des Krieges?

Dieser Frage ging nun Marcel Beyer nach in seiner Vorlesung zur Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales – also realitätsnahes, authentisches – Erzählen. Der brillante Vortrag – er ist klug, denkanstiftend, überraschend, poetisch, treffend und empathisch – ist jetzt als Buch erschienen: "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha" (Wallstein Verlag).

"Es fehlen die Krähen"

"Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich gesehen habe", schreibt Beyer. "Und das heißt, auch von dem zu erzählen, was ich nicht sehe. (…) Auf den Bildern, die ich seit dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine am Morgen des 24. Februar gesehen habe, ist mir etwas aufgefallen. Es fehlen die Krähen."

Die Krähen sind ein Bezug auf einen Aufsatz Viktor Schklowskijs über "Petersburg unter Blockade" – der Text ist Teil des Buches. Der russische Schriftsteller und Literaturtheoretiker beschreibt in dem 1923 veröffentlichten Aufsatz das unendlich entbehrungsreiche und qualvolle Leben während der Belagerung von Petersburg im Russischen Bürgerkrieg 1919/1920. Im Fokus: die Tiere. Pferde, die vor Hunger ausrutschen und stürzen, Hunde, die betteln und Männchen machen, bis sie eines Tages verschwinden, Katzen, die tot zur Seite kippen.

"In Petersburg sieht man dagegen keine Krähen", schreibt Schklowskij. "Petersburg lebt und stirbt schlicht, ohne Drama." Auch im Ukraine-Krieg spielen Tiere eine tragende Rolle. Sie sind Zeugen, Zeichen, Opfer und Trost. Das Spektrum reicht von "Killer-Vögeln" in russischen Verschwörungserzählungen bis zu den ungezählten Katzen und Hunden, die auf der Flucht der Ukrainer zurückgelassen werden mussten oder unter Lebensgefahr gerettet werden konnten.

"Habe gesagt, dass ich ohne meine Katzen nicht gehe"

"Als wir von einer Spezialeinheit evakuiert wurden, wollten sie keine Haustiere mitnehmen" – so hat es Stanislaw aus Butscha der Rezensentin erzählt, als sie im Winter dort war. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich ohne meine beiden Katzen nicht gehe. Und meine Mutter auch nicht. Also packten wir die Tiere und unsere Unterlagen in eine Tasche und gingen los. Durch den Wald Richtung Kiew. Wir wussten ja nicht, dass der Wald vermint war. Als wir irgendwann auf unsere Soldaten trafen, sind die aus allen Wolken gefallen. Sie waren sehr verwundert, wie wir das geschafft haben."

Marcel Beyer war selbst nicht in Butscha, er erlebt den Krieg vielmehr in medialer Vermittlung, verfolgt ihn über Fotografien und Twitter. Und trifft doch mitten ins Herz – durch das poetische, faktuale Erzählen. Er schreibt in "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten von Butscha": "Die Blutspur der Tiere und die Blutspur der Menschen kreuzen sich." Das, so bezeugt es eine Frau in Butscha, darf man wortwörtlich verstehen: "Sie haben auch auf Hunde geschossen, wenn sie auf die Straße liefen. Und wenn die Besitzer hinterherkamen, haben sie auch auf die geschossen."

Mit dem Fokus auf fehlende Krähen im Ukraine-Krieg und mit der Spur der Tiere folgt Marcel Beyer nicht nur kongenial Viktor Schklowskij, sondern auch einer Erzähl-Devise des Denkers Roland Barthes: Je unwichtiger das Detail, desto mehr Wirkung entfaltet es als Indiz für die "Wahrheit" der Darstellung.