Effektiver Altruismus – das ist eine aktuell sehr einflussreiche philosophische Bewegung, die jeden von uns ganz konkret anspricht. Die Idee dahinter: Es gehört zu einem guten Leben dazu, die Augen nicht vor Armut und Krankheit anderer zu verschließen – ganz egal, ob diese Menschen in unserem Land leben oder anderswo, ganz egal, ob wir ihr Leid tagtäglich mitansehen oder nur aus den Nachrichten davon hören. Jeder von uns sollte helfen, so die Effektiven Altruisten, und das möglichst effektiv. Peter Singer ist der vielleicht wichtigste Vordenker dieser Bewegung. Der Australier, der seit über 20 Jahren in Princeton lehrt, ist einer der berühmtesten und zugleich umstrittensten Philosophen der Welt. Außerdem ist er Aktivist. 2013 gründete er die Wohltätigkeitsorganisation "The Life You Can Save", die Hilfsorganisationen bewertet. Mit Singer hat Marie Schoeß darüber gesprochen, wieso die Idee des Effektiven Altruismus gerade so viele Menschen überzeugt. Aber auch darüber, was wir verlieren könnten, wenn wir beim Helfen vor allem auf die Effektivität schauen.
Marie Schoeß: Zu den ganz konkreten Vorschlägen der Effektiven Altruisten gehört auch die Einsicht: Tu Gutes und sprich darüber. Nicht etwa: Tu Gutes und schweige. Warum?
Peter Singer: Ich verstehe, warum Menschen ungern darüber sprechen, wie viel sie spenden, weil das selbstgerecht wirkt, oder so, als wolle man Leute kritisieren, die weniger geben. Aber psychologische Forschung belegt, dass wir eher bereit sind zu spenden, wenn wir wissen, dass andere dasselbe tun.
Das verhält sich ganz ähnlich, wenn es darum geht, Menschen zu helfen: Es ist immer schwerer, den ersten Schritt zu machen. Deshalb sollte man seine Bescheidenheit überwinden und offen sagen, was man spendet. Dann sehen andere, dass es eine normale Sache ist und nichts Sonderbares.
Sie sind als Philosoph bekannt geworden mit Arbeiten über Tierethik und weltweite Armut. Aber Sie haben auch über Literatur geschrieben, sich intensiv mit fiktionalen Texten und deren Wert für moralische Fragen beschäftigt. Deshalb würde man vielleicht nicht gleich denken, dass Sie Zahlen so ganz und gar vertrauen. Warum überzeugt Sie die Idee, dass Hilfsorganisationen besonders effektiv sein müssen? Und was heißt das: effektiv Gutes tun?
Sie sollten nicht denken, dass Leute, die sich für Literatur interessieren, nicht auch aufs Geld schauen. Aber bei Hilfsorganisationen hören die Leute in der Regel auf zu vergleichen. Sie recherchieren nicht, ob sie anderswo mehr für dasselbe Geld bekommen. Sie geben einfach. Vielleicht weil sie das Bild eines Kindes sehen, das sie berührt. Oder weil ein Freund sagt: Denen habe ich etwas gespendet. Dann spenden viele an diese Organisationen, ohne auch nur kurz zu recherchieren, welchen Unterschied ihre Spende machen wird.
Das will die Bewegung des Effektiven Altruismus ändern. Wir wissen nämlich, dass 100 Euro 100 Mal mehr bewirken können, wenn sie an eine effektive Hilfsorganisation gehen. Und bei weniger effektiven Hilfsorganisation denke ich nicht an eine betrügerische Organisation, die einen ums Geld bringen will, sondern an eine gute Einrichtung, die tut, was sie verspricht, aber viel Geld dafür braucht. Das ist übrigens oft der Fall, wenn man an Einrichtungen in wohlhabenden Ländern spendet und nicht an Einrichtungen in Niedriglohnländern.
Hinter dieser Auffassung des effektiven Helfens steckt auch das Verständnis, dass Menschen, die gut verdienen, die in wohlhabenden Ländern leben, Verpflichtungen gegenüber denen haben, die in extremer Armut leben. Warum sehen Sie das so – dass es nicht einfach gut ist, Menschen in extremer Armut zu helfen, sondern eine moralische Pflicht?
Ich glaube wirklich, dass es falsch ist, Menschen in extremer Armut nicht zu helfen, wenn man selbst, sagen wir mal, zum Mittelstand eines wohlhabenden Landes gehört. Oder sogar noch reicher ist.
Ich gebe dafür immer ein Beispiel: Stellen Sie sich ein Mädchen vor, das in einem flachen Teich ertrinkt. Sie sehen das und wissen, dass er flach ist, dass Sie also kein großes Risiko eingehen, wenn Sie das Mädchen retten. Aber einen kleinen Preis hätte es schon, weil Ihre teuren Anziehsachen ruiniert wären, wenn Sie in den Teich springen. Wenn Sie das alles einrechnen: Dass es nicht das eigene Kind ist, dass Sie das Kind sogar gar nicht kennen, nicht wissen, wie es dahingekommen ist oder warum die Eltern nicht da sind, aber eben auch, dass es ertrinken wird, wenn Sie nicht ins Wasser springen – mit diesen geringen Konsequenzen. Ich glaube, fast jeder würde sagen, man müsste das Kind retten. Und ich glaube, die Mehrheit würde es für schrecklich halten, würden Sie sagen: Ich tue einfach so, als hätte ich es nicht gesehen, es ist ja nicht mein Kind.
Aber wenn wir uns in dieser Frage einig sind, dann ist es nicht mehr weit, sich darauf zu verständigen, dass man auch Menschen helfen muss, die in Niedriglohnländern in extremer Armut leben. Wir können für vergleichsweise wenig Geld vielen helfen. Die Anti-Malaria-Foundation z.B. versorgt Kinder mit Bettnetzen, die gegen Malaria schützen, woran viele Kinder sterben. Sie können diese Kinder natürlich nicht sehen, vielleicht sind Sie also emotional nicht so angesprochen wie bei dem Kind, das vor Ihnen ertrinkt. Diese Kinder leben auch weiter weg, nicht in Ihrem Land, sie sind nicht Teil Ihrer ethnischen Gruppe. Aber das macht keinen kategorialen Unterschied. Deshalb halte ich es für eine Pflicht, Menschen in Niedriglohnländern zu helfen, für etwas, das man als Teil eines ethischen Lebens verstehen sollte.
Interessant an der Bewegung und auch an Ihren Schriften darüber ist, dass es so intuitiv klingt, sich so zu verhalten. Aber wenn wir intuitiv handeln, verhalten wir uns meistens ganz anders. Viele spenden dann an Institutionen in der eigenen Nähe, an Einrichtungen, zu denen irgendein persönlicher Bezug besteht. Was hält uns davon ab, in Ihrem Sinne effektiv zu spenden?
Ich glaube, uns steht die Vorstellung im Wege, dass manche Leute zur eigenen Gruppe gehören und andere nicht. Mehr für diejenigen zu tun, die zur eigenen Gruppe gehören, zieht sich durch die ganze Geschichte. Rassismus, Nationalismus – diese Idee, dass diejenigen mehr wert sind, die wie man selbst sind. Es ist nicht überraschend, dass das auch unser Spendenverhalten prägt.
Während Corona hat man es auch wieder beobachten können: Dass Menschen in wohlhabenden Ländern gerade ihre dritte oder vierte Spritze bekamen, während Menschen in anderen Ländern noch gar nicht geschützt waren. Dass wir Grenzen ziehen zwischen uns und den anderen, ist für mich der Hauptgrund. Wir sehen nicht, dass wir in ein- und derselben Welt leben und das Leben aller verbessern sollten.
Verhielten sich jetzt aber alle so, hieße das auch, dass Organisationen, die sich zum Beispiel um seltene Krankheiten und deren Heilung bemühen, chancenlos wären – einfach, weil sie mehr Geld brauchen, um Menschenleben zu retten. Damit entscheidet man sich also auch dagegen, diese Menschen zu retten. Ich sprach davon, dass es einen überraschen könnte, dass Sie als Philosoph sich so an Zahlen orientieren. Und damit meinte ich natürlich, dass Philosophen – von Utilitaristen abgesehen – oft davor zurückschrecken, Fragen zu beantworten wie diese: Sollten wir zwei Menschen töten, wenn wir damit 100 Leben retten können? Teilen Sie solche ethischen Bedenken, Leben mathematisch gegeneinanderzustellen, gar nicht?
Weil Sie vom Töten gesprochen haben, lassen Sie mich kurz klarstellen: Um Effektiver Altruist zu sein, muss man kein Utilitarist sein oder es für gerechtfertigt halten, einen unschuldigen Menschen zu töten, um 100 zu retten. Viele in der Bewegung würden das nicht unterschreiben, sondern auf moralische Grundsätze vertrauen, die man nicht antasten sollte. Aber trotzdem würden sie sich an Zahlen orientieren wollen, wenn es ums Helfen geht.
Wenn man zum Beispiel überlegt, für die Krebs-Forschung in einem wohlhabenden Land zu spenden, dann weiß man, dass das ein sehr teurer Weg ist, um Menschenleben zu retten. Viel Forschung ist nötig, oft ist sie nicht erfolgreich. Und gleichzeitig sterben Menschen an anderen Orten der Welt und wir wissen, wie wir sie retten könnten. Ich habe das Beispiel schon genannt: Menschen sterben an Malaria und wir können das mit Netzen verhindern. Menschen sterben an Durchfall, auch wenn wir wissen, wie sich das behandeln ließe.
Ein Effektiver Altruist würde da sagen: Es ist immer gut, jemandem zu helfen, und das sollten wir alle tun. Aber wollen Sie nicht möglichst vielen Menschen mit dem Geld helfen, das Sie spenden können?
Lassen Sie mich die Frage noch einmal anders stellen: Ein Schriftsteller, der Sie sehr interessiert, ist der Südafrikaner J. M. Coetzee. Und seine Literatur kreist um die Frage, ob es für eine Gesellschaft nicht wichtig ist, auch in den Dingen einen Wert zu erkennen, die sich nicht leicht berechnen lassen. Man kann da an die Künste denken, an Philosophie, an Geisteswissenschaften im Allgemeinen. All diese Bereiche werden Probleme haben, ihre Effektivität zu beweisen. Würden Sie sich jemandem wie Coetzee anschließen, dass diese nicht-kalkulierbaren Dinge wertvoll für eine Gesellschaft sind? Und warum hat es dann keinen Wert, zum Beispiel an ein Opernhaus zu spenden, was Sie ablehnen?
Ich bin nicht ganz einer Meinung mit Coetzee – auch wenn ich ihn für einen wunderbaren Schriftsteller halte. Eine moralische Überzeugung von ihm teile ich: Dass wir Tiere auf eine Art behandeln, die unverzeihlich ist. Ich weiß auch nicht, ob er selbst sagen würde, wir sollten uns lieber um die Oper kümmern als um Menschen in extremer Armut. Er ist ja in Südafrika großgeworden, kennt das Leben von Menschen in Armut und schreibt darüber auch mit einer gewissen Sympathie.
Ich glaube, es ist einfach schwer zu begründen, warum Oper so wichtig sein sollte, dass man anderswo deswegen Menschen sterben lässt. Man kann Kultur ja in ganz verschiedenen Formen genießen – Oper in einem bescheideneren Haus oder in einer reduzierteren Form, ohne viel Geld für Kostüme und Bühnenbild zum Beispiel. Menschen könnten das immer noch genießen, vielleicht sogar genauso sehr.
Es ist einfach so: Unsere Welt hat nicht unbegrenzte Ressourcen und wir müssen Entscheidungen treffen. Wir entscheiden uns jeden Tag dafür, für eine Sache Geld auszugeben und für eine andere nicht, für den einen Zweck zu spenden, für den anderen nicht. Und ich denke, man sollte das so unparteiisch wie möglich angehen.
Ich sehe den Erfolg der Effektiven Altruisten auch als Teil eines größeren gesellschaftlichen Trends hin zur Messbarkeit der Dinge. Mit Corona und dem Arbeiten von Zuhause hat zumindest in den USA die Tendenz Fahrt aufgenommen, Effizienz beim Arbeiten zu messen. Und das ist nur ein Beispiel. Sehen Sie keine negativen Konsequenzen dieses Wandels – im Allgemeinen und mit Blick auf den Altruismus?
Es stimmt: Wir wollen berechnen, was eine Spende bewirkt. Aber das ist nicht wirklich neu, das machen wir längst, wenn wir ein Handy oder ein Auto kaufen. Der Effektive Altruismus schlägt nur vor, dasselbe auch in einem anderen Lebensbereich zu tun.
Ich glaube, der Erfolg der Bewegung liegt weniger am neuen Interesse an Messbarkeit, sondern am Internet und an der Möglichkeit, sich dort mit anderen auszutauschen. Menschen, die immer schon über diese Fragen nachgedacht haben, sind jetzt keine Einzelkämpfer mehr. Das war, denke ich, ein Grund für den Erfolg der Effektiven Altruisten, dass die Bewegung in einer Zeit entstanden ist, in der sich die Menschen im Netz austauschen konnten und gesehen haben, dass andere denken wie sie selbst.
Ich bin sicher, Sie hören immer wieder Bedenken wie meine. Erkennen Sie darin eigentlich vor allem den Versuch, das eigene Verhalten zu rechtfertigen?
Ich denke das sehr oft, ja. Weil ich häufig Einwände höre, die ich für wenig überzeugend halte. Und das betrifft Menschen, die ich sehr schätze, genauso – meine Kollegen in der Philosophie zum Beispiel. Ich denke, das ist eine Art Rationalisierung, ein Versuch zu verteidigen, warum die Dinge so sind, wie sie gerade sind, oder zu verteidigen, was Menschen wollen. Und man will nicht hören, dass man nicht ethisch lebt, wenn man Menschen in extremer Armut nicht hilft.
Ich denke, das ist ein Grund, warum Menschen Einwänden gegen den Effektiven Altruismus vertrauen, auch wenn sie nicht besonders überzeugend sind.
Das ganze Gespräch mit Peter Singer hören Sie in unserem Kulturjournal am 8. Januar ab 18.05 Uhr auf Bayern 2.
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