Trotz Emanzipation ist Gewalt gegen Frauen weltweit ein großes Thema. Warum das so ist, fragt Autorin Susanne Kaiser in ihrem Buch "Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen". Darüber hat sie auch mit Judith Heitkamp von der Bayern 2-kulturWelt gesprochen.
Judith Heitkamp: Sie schreiben in Ihrem Buch, laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) würden mehr Frauen zwischen 15 und 44 Jahren durch ihren Partner verletzt oder getötet als durch Krebs, Autounfälle, Malaria und Krieg zusammen. Wenn das so ist, warum spricht keiner darüber? Müsste man das nicht mitbekommen?
Susanne Kaiser: Wir bekommen es ja mit, aber wir bekommen es halt immer als Einzelfälle präsentiert. Es ist also nicht so, dass die Presse das nicht bringen würde oder wir gesamtgesellschaftlich nicht auch über Gewalt gegen Frauen sprechen würden. Gerade während der Pandemie war das ja eigentlich ständig Thema. Kein Thema ist jedoch – und da sehe ich das Problem –, dass es strukturelle Ursachen dafür gibt, die mit dem Patriarchat zu tun haben. Darüber sprechen wir nicht. Da scheint es ein Tabu zu geben.
Das hat ja auch damit zu tun, wie man gewohnt ist, etwas zu sehen oder einzuordnen. Und die Verallgemeinerung bei Gewalt gegen Frauen lautet eben häufig: Familientragödie. Welche Aspekte werden da betont, welche treten zurück?
Also, betont wird ganz oft, dass es ein tragischer Vorfall gewesen sei, der mit einer bestimmten Paardynamik zu tun habe. Oft geht es auch nur um die Opfer, meistens Frauen oder Kinder, und selten nur nur um die Männer. Das sehen wir etwa an Passivkonstruktionen. Wir lesen häufiger, dass eine Frau angeschossen wurde – seltener, dass ein Mann eine Frau angeschossen hat. Das blendet schon ganz schön viel aus. Und ich glaube, hier kommt genau dieses Tabu ins Spiel, das ich gerade meinte, und das verhindert, dass wir das Problem klar sehen.
Ist ein Problem nicht vielleicht auch, dass wir Gewalt gegen Frauen gerne anderen Kulturkreisen zuordnen. Die WHO erfasst Gewalt gegen Frauen ja als weltweites Phänomen – da geht es nicht nur um den Iran oder Afghanistan ...
... ja, das ist sowieso so ein klassischer Reflex, das einfach auszulagern. Das haben wir ja jüngst auch mit der "kleine Paschas"-Diskussion ja auch gesehen – dass so getan wird, als hätten wir dieses Problem hier nicht. Die Zahlen sprechen da aber eine ganz andere Sprache. Es sind eben auch sogenannte "biodeutsche" Täter, darunter auch ziemlich viele Akademiker, die ihre Frauen gewaltvoll behandeln.
Und das alles nach MeToo, nachdem wir auch in Punkto Gleichberechtigung ein Stück vorangekommen sind. Sie sprechen in dem Zusammenhang auch vom feministischen Paradox - was verstehen Sie darunter?
Das ist genau der Backlash gegen den Aufstieg von Frauen, den wir seit einiger Zeit beobachten und der durch das Internet auch besonders sichtbar ist. Frauen können mittlerweile alles werden: Bundeskanzlerin, Außenministerin, Fußball-Kommentatorin, WM-Spiele pfeifen – das ist alles möglich! Das provoziert aber auch den Aufstieg der von autoritären Kräften – Donald Trump in den USA wäre ein Beispiel. In Schweden wurde die feministische Regierung gerade abgelöst durch die Rechten. Und das sehen wir eigentlich überall. Im Internet gibt es eine Schwemme von Hasskommentaren. Außerdem nimmt die Sexualisierung von Frauen zu, also dass Frauen auf ihren Körper reduziert werden.
Und wir sehen einen Anstieg von häuslicher Gewalt. Also: Der Erfolg der Emanzipation löst einen Backlash aus, das Zurückwollen zu vermeintlich besseren Zeiten für Männer. Die verlieren ja gerade unglaublich viele Privilegien – in Unternehmen, in der Politik, aber auch in der Familie. Wir haben jetzt kein männliches Familienoberhaupt mehr, sondern es soll gerecht geteilt werden. Da gibt es einfach sehr viel zu verlieren.
Da würden jetzt wahrscheinlich die meisten Männer im Umfeld von Bayern 2 sagen: Ich auf keinen Fall! Das muss andere betreffen ...
Ja, ich glaube, das ist auch so ein Reflex – und vielleicht ist es vielen auch gar nicht bewusst. Ich habe auch mit Frauen gesprochen, deren Männer Akademiker waren, deren Männer teilweise sogar selbst feministisch waren und andere Frauen durchaus gefördert haben. Das schließt sich nicht aus! Ich glaube nur, dass es wenig Bewusstsein dafür gibt, was man selbst noch für Privilegien zu Hause für sich in Anspruch nimmt. Gewalttätigkeit ist, glaube ich, nichts, was so unmittelbar immer bewusst ist. Und genauso wenig, wann das anfängt und was alles dazu zählt.
Was zählen Sie denn dazu?
So etwas wie ökonomische Gewalt, das würde ich auch dazu zählen. Oder psychische Gewalt: jemanden immer wieder klein machen, erniedrigen. Das ist vielen vielleicht gar nicht klar. Die denken, nur die Vergewaltigung oder der Schlag ins Gesicht wären Gewalt. Aber das fängt natürlich viel früher an und steigert sich dann. Und es gibt immer noch diese Mythen, dass Frauen auch ein bisschen selbst dran schuld sind, wenn ihnen so etwas passiert. Paardynamiken und so. Und solange wir diese Mythen noch im Kopf haben, lassen sich auch immer Ausreden finden, warum man jetzt gerade gewalttätig geworden ist.
Wie ist es mit Menschen, die heute unter 20 sind, hängen die nicht ganz anderen Geschlechterbildern an?
Die Hoffnung bestand ja lange. Aber die hat so ein bisschen Andrew Tate zerstört, das ist dieser "King of Toxic Masculinity", einer der meist geklickten und auf Google gesuchten Personen 2022, der eben mit so Sprüchen wie "Frauen gehören nach Hause an den Herd!" oder "Wenn sie vergewaltigt werden, sind sie selbst schuld!" und so weiter provoziert hat und dessen Anhängerschaft auf TikTok auf Twitter etc. bis zu 13 Jahren alt ist. Das ist ja leider die nächste Generation von Männern, die da gerade ziemlich toxische Männlichkeitsideale feiert.
Sie haben so viele Geschichten eingesammelt für dieses Buch. Was bleibt bei Ihnen am Ende als Gefühl zurück mit Blick auf die Zukunft?
Was kommt, ist immer schwer zu sagen, finde ich. Auf der einen Seite sehe ich, dass es diesen Aufstieg der Autoritären gibt und dass der, glaube ich, noch lange nicht vorbei ist. Das ist schon bedrohlich. Aber auf der anderen Seite sehe ich auch Frauen, die sich wehren. Im Iran zum Beispiel, aber auch woanders auf der Welt, gerade in westlichen Ländern. Und darauf setze ich meine Hoffnung!
Susanne Kaisers Sachbuch "Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen" ist bei Tropen erschienen und kostet 22 Euro.
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