Ein weißer Vorhang, auf dem eine Partitur abgebildet ist, verdeckt den Bühnenraum. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ klirren aus dem Orchestergraben.
Dann zerfetzt ein Stroboskop im Rhythmus von Vivaldis Barock-Hit die Bühne, Disco-feeling macht sich breit. Wie aus dem Nichts tauchen im grellen Licht die Tänzer auf. Sie tragen nur hauchdünne Bodies und Ballettschuhe. Und sie vollführen kraftvolle, kantige, akrobatische Bewegungen. Dabei zerlegen die Blitze der Beleuchtung ihre Körper in hunderte Einzelbilder. Jedes für sich erweckt den Anschein, als habe man eine anatomische Studie von Leonardo da Vinci vor sich. Fahl und doch präzise schimmern die nackten Muskeln im kalten Licht. Was passiert da im Ballett „Kairos“? Ein reichlich übermütiger Totentanz. Aktzeichnen für Fortgeschrittene. Barockes Gedankengut a la „memento mori“ in getanzter Form. Choreograph Wayne McGregor verpasst mit dem ersten Bild des Abends den Synapsen einen Klaps. Es rattern die Assoziationsketten, so will es McGregor: „Das ist keine Detektivgeschichte, wo du dauernd nach Beweisen suchen musst, die dir zeigen: ja, du hast es kapiert, du bist auf dem richtige Weg. Tanz sollte durch einen hindurch fließen und Gefühle auslösen. Manchmal sind die angenehmen, manchmal schön, manchmal verstörend.
Also zurücklehnen und zuschauen, wie der englische Choreograph den durch genudelten Venezianer Vivaldi in Bewegungen versetzt und buchstäblich in neues Licht rückt! Mal schmiegen und schlingen sich die Tänzer im Pas de Deux umeinander, wie siamesische Zwillinge, mal stolzieren die Tänzerinnen auf ihren Spitzenschuhen wie Flamingos im Zoo. Im Bewegungskanon bleibt McGregor dem neoklassischen Stil treu. Aber das Tempo lässt die Jahreszeiten wie ein Daumenkino an einem vorbei flirren.
Sunyata – vertonte und vertanzte Sufi-Gedichte
Stimmungswechsel im zweiten Teil, der Uraufführung des Abends. Die Musik hat die zeitgenössische Komponistin Kaija Saariaho geschrieben, basierend auf persischen Sufi-Gedichten. Sphärisch, wolkige Tongebilde wabern durch die Luft, scharfe Akzente verstören, eine Stimme nuschelt Unverständliches. Selbstverständlich und souverän nimmt das Orchester unter Leitung von Koen Kessels den Wechsel vom Barocken zur neuen Musik. Es verschmilzt mit den Tänzern zu einer Einheit. Eine Urlaubsreise in den Iran hat Mc Gregor zu „Sunyata“ inspiriert - entsprechend das Bühnenbild: eine bunte, persische Miniatur mit kleinen Szenerien, vergrößert auf XXL-Format.
Weil McGregor gerne um die Ecke und dann nochmal um die Ecke denkt, hat er das Bild um 90 Grad gekippt und ins Zentrum eine blutrote riesige Sonne projiziert. Diese Symbolik zu analysieren, dazu kommt nicht, weil die betörend schrägen, technisch schier unmöglich scheinenden Schrittfolgen der 8 Tänzer einen vereinnahmen. Mal erzählen ihre Körper die persischen Geschichten auf dem Bühnenbild weiter. In diesen Momenten agieren sie konkret, zueinander gewandt, oder lassen sich vertrauensvoll rückwärts in die Arme des Partners fallen, biegen ihre Körper in Schräglagen, die eigentlich den Gesetzen der Schwerkraft widersprechen. Dann plötzlich versenken sie sich in eine meditative Innerlichkeit und loten ihres Körper ganz für sich aus. Dehnbar wie Hosengummi scheinen die Bänder der Beine zu sein, der Fuß schwebt neben dem Ohr, scharf gebogen wie ein Krummsäbel. Und schonungslos, wie schon im Ballett „Kairos“ - zeigt McGregor auch hier die körperliche Arbeit. Keine fleischfarbene Strumpfhose verschleiert die enorme Anspannung. Die Sehnen straffen sich, der Bizeps schwillt an, die Oberschenkel teilen sich in Muskelpakete zu den nagenden Tönen von Saariahos Musik. Das Publikum zeigt seine Begeisterung mit tosendem Applaus für dieTänzer, den Choreographen und das Orchester.
Borderlands – an den Grenzen der Belastbarkeit
Im letzten Teil des Abends, „Borderlands“ - erforscht McGregor zu elektronischen Beats die Grenzen der Belastbarkeit, wie es „Border“ nahe legt: Wie schlangengleich schafft er es, sich zu winden, wie lässig pfeift er auf seine Limits, wo endet mein Körper, wo beginnt der des Anderen. Drei Wände begrenzen den Bühnenraum, der seine Farbe immer wieder von Hellblau, in Betongrau zu milchig Weiß verändert. Im Kegel dieser Lichtstimmungen beweisen 12 TänzerInnen des Staatsballetts einmal mehr, auf welch hervorragendem technischen Niveau sie klassisches Ballett beherrschen. Denn auch hier arbeitet McGregor mit eigentlich bekanntem Material: Battements, Jetes, Pirouetten, weiche Arme, beweglich wie die Äste einer Birke, Finger, zart wie Schwanenfedern. Im großen Finale von Borderlands zerstückelt McGregor dann die Schrittfolgen mit einer Schnelligkeit, die an das rasante Gemüsemesser eines chinesischen Kochs erinnert. Man kann der Virtuosität kaum noch mit den Augen folgen und fühlt sich, wie in einer Pop-Cornmaschine, wo es auch pausenlos ploppt. Was sich da konkret auf der Bühne abspielt, lässt sich schwer benennen. Das Publikum jedenfalls trampelt vor Begeisterung mit den Füßen. „Da capo“ müsste man jetzt eigentlich rufen!