Antiautoritärer Kinderladen von Studenten in einem Bochumer Obdachlosenasyl (1971)
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Antiautoritärer Kinderladen von Studenten in einem Bochumer Obdachlosenasyl (1971)

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Danke 68er, dass ihr meine Kindheit gestohlen habt!

Keine Hierarchie zwischen Eltern und Kindern, dafür viel Diskussion über alles und jeden: Die antiautoritäre Erziehung machte es den Beteiligten nicht leicht. Thomas Koppelt hat sie erlebt - und rechnet mit seinen 68er-Eltern ab.

Über dieses Thema berichtet: Nachtstudio am .

Ihr lieben 68er: Ja, danke! Danke für alles. Vor allem dafür, dass ihr mir meine Kindheit gestohlen habt. Tut mir leid, dass ich das so offen sage, Mutter. Nein, "Mutter" durfte ich dich ja nie nennen. Für mich warst du immer Erika. Ich hatte keine Mutter. Ich hatte keine Eltern. Zumindest keine, die sich wie Eltern verhalten haben. Eltern, die mir sagten, was richtig und was falsch ist. Das sollte ich für mich selbst entscheiden. War ja schließlich mein Leben, und nicht eures. Da wolltet ihr mir nicht reinreden.


"Einübung in Diskursivität"


Ihr wolltet mich aus meinem unmündigen Zustand befreien. Ich sollte Verantwortung übernehmen. Ihr habt mich als Individuum betrachtet. Als Mensch akzeptiert. Aber nicht als Kind. Sonst hättet ihr mich nicht in den Kinderladen geschickt. Und in die Alternativschule. Zum pädagogischen Experiment am lebenden Objekt: Keine Türen, keine Noten, keine Hausaufgaben, keine Strafen. Wechselnde Bezugspersonen, um die "autoritäre Familienfixierung" zu verhindern. "Eine Gesellschaft ist schließlich keine Schafherde." Ich sollte selbstbewusst und konfliktfähig werden.

In Wirklichkeit war ich hauptsächlich allein. Wir sind die Generation der Schlüsselkinder. Wenn ich nach Hause kam, wartete niemand mit dem Essen auf mich. Kochen musste ich selbst. Machen durfte ich, wozu ich Lust hatte. Gehen durfte ich, wohin ich wollte. Verbieten war verboten. Nach dem Motto: "Wenn du es willst, dann tu es!" Ja, da habt ihr euch fein aus der Verantwortung gestohlen! Indem ihr mich zur Selbständigkeit erzogen habt, konntet ihr in Ruhe euer Leben leben. Nein, Erika, wir waren nicht Mutter und Sohn, wir waren Kumpel. Als ich sechs Jahre alt war, hast du mir deine Probleme erzählt. Ein Jahr später durfte ich politische Debatten mit euch führen. Kein Wort habe ich verstanden. Aber alles wurde durchdiskutiert. "Einübung in die Diskursivität" habt ihr das genannt.


Demonstrieren in der Kinderkraxe


Ich durfte schon gegen Springer demonstrieren, ehe ich sprechen konnte. In der Kinderkraxe, huckepack auf euren Rücken. Und heute wundert ihr euch, wie oberflächlich und unpolitisch ich doch bin, dass ich während der Studentendemos zum Skilaufen fahre! Aber gegen was soll ich denn anrennen? Ihr sitzt da in euren ausgelatschten Turnschuhen, und redet über eure Drogenerfahrungen. Wie soll man bitteschön gegen euch revoltieren? Ist es Protest genug, in die Junge Union einzutreten? Nachdem ihr uns alle Freiheiten gewährt habt, blieb uns doch gar nichts anderes übrig, als uns in die Spaßgesellschaft zu flüchten.

Wahrscheinlich sollten wir das ausdiskutieren. Habt ihr ja immer gerne gemacht. Von wegen: "Die Jugend vereint sich zu einem riesigen Muskel". Wenn ihr euch zu irgendetwas vereint habt, dann zu einer gewaltigen, beständig lallenden Zunge. Wenn ihr eines gut drauf hattet, dann reden, jeder mit jedem: Arbeiter mit Studenten, Künstler mit Spießbürgern, Demonstranten mit Polizisten, ein fortwährendes, Klassen überschreitendes Gelabere. Das war die Grundlage für eure Idee der Völkerverständigung: Die Welt als globaler, friedlich diskutierender Stuhlkreis. Da saßt ihr dann, mit euren langen Haaren, in euren bunten Pullovern, Blumen im Haar und Glöckchen um den Hals. "Psychedelische Mode". Hat euch bestimmt gefallen, dass alles wieder auf uns zurückgeschwappt ist, die ganze potthässliche 68er-Folklore.


Haben die Eltern das regere Sexleben?


Wenn ihr uns wenigstens heute in Ruhe lassen würdet! Aber nein, genau das, was ihr an euren Eltern so satt hattet, die spießige Rückwärtsgewandtheit, das Leben in der Vergangenheit, das zelebriert ihr mittlerweile selbst bis zum Umfallen. Ihr feiert den Mai 68 als welthistorisches Ereignis, das an Bedeutung allenfalls noch von der Französischen Revolution übertroffen wird. Ihr redet euch die Köpfe heiß, prahlt mit euren Tabubrüchen und schwelgt ihr in den ach so "wilden Zeiten", als ein entfesselter Friedrich Merz ohne Führerschein und mit wehendem Haar durchs Sauerland gerast sein will – Zeugen gibt es dafür freilich nicht. Jeder, der seit 68 nichts mehr zu sagen hatte, hält seine Nase in die Kamera und wirft noch schnell ein Buch auf den Markt. Und egal, ob es mich interessiert oder nicht: Dank Götz Aly weiß ich heute, dass ihr euch im tiefsten Inneren kaum von euren Fascho-Eltern unterscheidet, dass ihr in euren K-Gruppen den Nationalsozialismus ausgeschwitzt habt, dass ihr nicht nur antibürgerlich und antiamerikanistisch wart, sondern auch gewaltbereit, latent antisemitisch und totalitär.

In Wirklichkeit wart ihr wahrscheinlich einfach orientierungslos: Pazifismus, Hinduismus, Kommunismus, Existentialismus, dazu ein bisschen Frankfurter Schule, viel Rockmusik, Drogen und natürlich: Sexuelle Befreiung! Mehr noch: Sexuelle Revolution! Eine Revolution, die uns so schöne Sachen beschert hat wie den Swinger Club. Ja, da seid ihr heute noch stolz drauf! "Die Welt durch den Orgasmus erlösen", "die kosmische Energie des Orgons erkunden": Was für ein Käse! Rainer Langhans hat in einem Interview gestanden, dass in der Kommune 1 hauptsächlich gekuschelt wurde! So viel zur Freien Liebe! Überall in der Wohnung habt ihr Aufklärungsbücher verstreut, mit so schönen Titeln wie "Zeig mal!" Mit 5 Jahren wusste ich alles über das "kreative Potential" der körperlichen Liebe. Verklemmt war ich trotzdem. Weil ich in dem Glauben aufwuchs, meine Eltern hätten ein regeres Sexleben als ich selbst. Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Bei einer Demo gegen den Vietnamkrieg? Make love not war? Oder bei einer Orgie in der Kommune um die Ecke? "Wer zwei Mal mit derselben pennt" und so weiter? Wart ihr in Wirklichkeit nicht auch auf der Suche nach der einen, großen, romantischen Liebe? War eure ganze Revolte nicht eine einzige romantische Gefühlsaufwallung? Wart ihr nicht von euch selbst berauschte Träumer?


Die Revolution dreht sich im Kreis


Nein, natürlich, ihr wart politische Helden! Kämpfer! Befreier! Was und wen ihr nicht alles befreien wolltet: Die Liebe und den Sex, die Arbeiter und die Unterdrückten, die Schwulen und die Frau. Irgendwann habt ihr dann bemerkt, dass die sexuelle Befreiung nur den Männern zugute kommt. Was ihr uns hinterlassen habt, sind Frauen wie Angela Merkel. Oder ehemalige Barrikadenstürmer im Maßanzug. Straßenkämpfer mit der Street Credibility eines Joschka Fischer, die humanitäre Kriege in Europa führen. Ökos, die das Kapital entdeckt haben. Und Wohngemeinschaften, in denen man sich seit 40 Jahren darüber streitet, wer den Müll rausbringt.

Und seht euch nur mal an, was ihr gezeugt habt: Eine Generation Golf. Neoliberale Jugendliche mit Designerbrillen. Computerspezialisten und Börsenspekulanten, die mit Hedgefonds 2 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaften und nur gegen Quittung spenden, weil man das dann von der Steuer absetzen kann. Das ist übrig geblieben nach der Umwälzung aller Wertesysteme und Lebensweisen, nach dem langen Marsch über das Pflaster, unter dem ihr immer nach irgendeinem nebulösen Strand gesucht habt. Ihr mit eurer Revolution! Glaubt ihr immer noch, ihr hättet innerhalb eines Jahres die Welt verändert? Revolution! Wisst ihr überhaupt, was das Wort bedeutet? "Re-volution"? Zurückrollen! Sich im Kreis drehen! Tut mir leid, Erika. Aber schön, dass wir mal drüber geredet haben.