Matthias Politycki darf unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren als einer der Weitgereisten gelten. 94 Länder hatte er bereits 2017 bereist, als er sein Buch "Schrecklich schön und weit und wild" veröffentlichte, das sich mit der Frage befasste, "warum wir reisen und was wir dabei denken". Kein Travelguide, kein Reiseratgeber war das, sondern eine erfahrungsgesättigte Reflexion über das Reisen. Über die Faszination des "schieren Aufbrechens", des "schieren Vorankommens", "schieren Weiterreisens".
Bei der Lektüre kam einem ein Satz von Kurt Tucholsky in den Sinn, geschrieben 1925: "Eine Reisebeschreibung ist in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch, nicht für die Reise. Worüber der Autor sich wundert, und noch mehr, worüber er sich nicht wundert – denn nichts ist für den Menschen so bezeichnend wie das, was ihm selbstverständlich erscheint –, worüber er lacht, und worüber er traurig ist, seine scherzhaften und seine pathetischen Bemerkungen, seine Landschaftsschilderungen: diese Dinge enthüllen zunächst einmal ihn selber." Ob Usbekistan oder Kuba: Politycki verwandelt seine vor Ort gewonnenen Erfahrungen in Literatur, davon zeugen etwa seine Romane "Samarkand, Samarkand" (2013) sowie "Herr der Hörner" (2005).
Ein weiterer Afrika-Roman
Nach seinem in Tansania und Sansibar angesiedelten Roman "Das kann uns keiner nehmen" (2020) und seinem Essay "Mein Abschied von Deutschland" (2022) hat der 67-Jährige nun erneut einen Roman in Afrika angesiedelt: "Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes" spielt in Äthiopien kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs in diesem Vielvölkerstaat 2020.
Regiert wird dieses tief zerstrittene Land vom Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed. Der sich anbahnende Konflikt in Tigray ist der reale politische Hintergrund, die Folie, vor der Politycki seine fiktive Geschichte entfaltet. Und so wie er Land, Leute und das alltägliche Leben dort schildert, liegt die Vermutung nahe, dass sich das eigener Anschauung verdankt. Im Gespräch erzählt Politycki, er sei zu eben jener Zeit 2020 durch Äthiopien gereist: "Ich war dort mit zwei Freunden, allerdings haben wir anfangs von dem Brodeln noch gar nicht so viel mitbekommen. Erst als die Straßensperren immer häufiger wurden und die ersten Nachrichten von Ausschreitungen, Plünderungen und auch kleineren Gemetzeln da und dort uns erreichten, wurde uns klar, dass die Reise durchaus brisant ist. Das war nicht von vornherein ausgemacht, dass der Konflikt unbedingt in Tigray losgehen würde, die Konflikte waren und sind eigentlich überall im Land."
Archaische Rituale und Rammstein-Videos auf dem Handy
Politycki schildert einerseits eine archaische Welt mit Regenmachern, Schamanen, Lippen- und Ohrtellern, Zeremonien und Initiationsriten wie dem "Bullensprung", mit blutigen Stockkämpfen, grausamen Auspeitschungen und Unterwerfungsgesten von Frauen. Andererseits sind die Bewohner dieser "wilden Welt", wie sie im Roman mal genannt wird, über ihre Mobiltelefone angebunden an die Moderne. Sie schauen sich sogar Rammstein-Videos darauf an.
Man bewege sich in einer extrem widersprüchlichen Welt, sagt Politycki: "Wenn man dort hinreist, bemüht man sich um ein vorsichtiges Aufeinanderzugehen der Kulturen und auch darum, mit den eigenen Wertvorstellungen nicht vorschnell zu urteilen. Das ist im Omo-Tal, wo der Schwerpunkt des Romans verortet ist, besonders notwendig, denn man wird eben als Bewohner einer westlichen Metropole zum Teil schockiert von den dortigen – offiziell übrigens verbotenen – Bräuchen, die aber gleichzeitig Touristen-Magnete sind. Insofern gehören diese teils sehr blutigen Bräuche auch zur Einnahmequelle der rund achtzig verschiedenen Völker. Klar, die haben natürlich auch Mobil-Telefone, und die wissen sehr genau, wie wir über sie und über 'Afrika' reden."
Ein Wiener in Äthiopien
Matthias Polityckis männliche Hauptfigur ist Josef Trattner, ein 47-jähriger Lebens-Künstler und Halllodri aus Wien, der trotz abgebrochenen Archäologie-Studiums als Grabungsleiter auf dem Judith-Stelenfeld in Aksum gearbeitet hat und der jetzt durchs Land fährt zum Ende seiner Zeit dort. Er fährt zusammen mit zwei Führern durch Gegenden, durch die nur wenige Auswärtige kommen – und dort begegnet ihm die Frau, die im Zentrum des Romans steht: Natu, eine Frau aus dem Volk der Suri.
Eine mysteriöse Erscheinung, sehr selbstbewusst, sehr willensstark, ein so rebellischer wie enigmatischer Charakter, eine Person voller "kriegerischer Anmut", wie Politycki es im Gespräch ausdrückt: "Es ist keine klassische Liebesgeschichte, da taucht nicht nur eine rätselhafte Schönheit auf, die den Trattner in Bann schlägt, sondern es ist auch schon der Schrecken, den diese Frau verkörpert, das radikal Fremde und Unbegreifbare, was ja auch anziehend wirkt." Trattner vergleicht Natu, die so selbstsicher und gemessenen Schrittes geht und aus ihm unklaren Gründen seine Nähe sucht, unter anderem mit der biblischen Königin von Saba. Politycki nähert sich mit großer Sensibilität seinem Thema, spart auch nicht die unbequemen Wahrheiten aus: "Leider sei in Äthiopien fast jeder Rassist, deshalb gebe es ja auch wieder Krieg", sagt einer der beiden äthiopischen Begleiter "Joe" Trattners einmal.
Fremdheit als wechselseitiger Zauber
"Ihre Fremdheit war wie ein Zauber", heißt es mal über Natu. Und Trattner, der von ihr fasziniert, der in sie verliebt ist, begreift irgendwann, "dass die Fremde nicht verstanden werden wollte und erst recht nicht geliebt. Sie wollte einfach nur bleiben, was sie war." An anderer Stelle steht, der "gefährlichste Punkt jeder Reise" sei der, "an dem man glaubt, sich auszukennen, wenn nicht gar, manches besser von einem Land begriffen zu haben als die Einheimischen".
So ist dieser Roman auch immer wieder eine kritische Reflexion unseres mit der entsprechenden Moral ausgestatteten mitteleuropäischen Blicks auf die Ereignisse in Äthiopien. "Chronik eines vermeidbaren Todes" nennt Politycki seinen neuen Roman im Untertitel. Das erinnert natürlich an die "Chronik eines angekündigten Todes" von Gabriel García Márquez. Der Tod spielte schon in seinem Vorgänger-Roman "Das kann uns keiner nehmen" eine zentrale Rolle. Darin steht der Satz: "Um den Tod auf Distanz zu halten, hilft nichts als Neugier." Diese Neugier zeichnet auch Polityckis jüngsten Roman aus.
"Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes" von Matthias Politycki
Matthias Politycki: "Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes". Roman. Hoffmann & Campe Verlag. Hamburg 2023. 400 Seiten. 25 Euro
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