Der israelische Soziologe und Sachbuchautor Natan Sznaider
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Der israelische Soziologe und Sachbuchautor Natan Sznaider

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"Alles ist möglich": Soziologe zu neuer Regierung in Israel

Israels Ministerpräsident Netanjahu koaliert mit der religiösen Rechten. Manche Kommentatoren sehen deshalb die Demokratie in Gefahr. So weit geht der Soziologe Natan Sznaider nicht. Es drohe jedoch eine Spaltung im Land – mit unabsehbaren Folgen.

Seit Donnerstag regieren die Rechten in Israel. Das Parlament hat die rechts-religiöse Koalition unter Langzeit-Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bestätigt. Im Kabinett sitzen nun Politiker wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich, die noch vor nicht allzu langer Zeit als unwählbar galten. Beide lehnen einen palästinensischen Staat ab und befürworten die Ausweitung israelischen Territoriums ins besetzte Westjordanland. Liberale Kommentatorinnen und Kommentatoren blicken besorgt auf die Situation im Land.

Kommentatoren warnen vor Ende der Demokratie

So zum Beispiel der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm, der vor Wochen in der ZEIT zum Schluss kam: "Die Demokratie wählt sich ab". Auch von einem "Weimar-Moment" sprach Boehm und weckte damit Assoziationen zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Und auch der politische Betrieb im Land sorgt sich um die demokratische Verfassung Israels : "Ich hoffe sehr, dass die Menschen keinen Grund haben müssen, sich zu fürchten", teilte die bisherige Wirtschaftsministerin Orna Barbivai mit. "Leider lese ich die Koalitionsabkommen und verstehe die Sorgen. Alle haben zu Recht Angst."

Yael German zog ihrerseits bereits Konsequenzen. Die israelische Botschafterin in Frankreich verkündete noch am Donnerstag ihren Rücktritt. Sie halte die extremen Positionen, die Mitglieder der neuen Regierung verträten, für unzulässig – teilte German in ihrem Kündigungsbrief mit. Die radikalen Reformpläne des neuen Kabinetts zwängen sie dazu, ihr Amt niederzulegen.

Natan Sznaider hat Verständnis für diesen Schritt: "Ich beneide Frau German darum, dass sie ihr Amt niedergelegt hat", erklärt der Soziologe im Interview mit dem BR. Sznaider wurde in Deutschland geboren, zog mit 20 Jahren nach Israel und lehrte bis zu einer Emeritierung als Professor in Tel Aviv, wo er noch heute lebt.

Natan Sznaider glaubt an eine "Phase"

"Alles ist möglich, alles kann passieren", sagt Sznaider mit Blick auf die neue Regierung. Der gehörten Ministerinnen und Minister an, die "jenseits des demokratischen Spektrums" zu verorten seien, und die man als "Rassistinnen und Rassisten" bezeichnen müsse. In die Kassandrarufe stimmt er trotzdem nicht mit ein. "Ich werde jetzt nicht die Koffer packen und ins Exil gehen." Insbesondere Boehms Weimar-Vergleich halte er für falsch. Er sei immer noch der Überzeugung, dass mit der rechts-religiösen Koalition nicht der Anfang vom Ende der Israelischen Demokratie angebrochen sei. "Es ist eine Phase, und diese Phase werden wir auch überstehen."

Diese Hoffnung dürften viele Menschen in Tel Aviv teilen, dem liberalen Zentrum des Landes. Gegen Ende der vergangenen Woche kam es dort bereits zu Protesten. Hunderte Demonstranten blockierten eine Schnellstraße, um auf die Bedrohung der LGBTQ-Gemeinde aufmerksam zu machen. Eine Reaktion auf die offene Homophobie, die insbesondere von den rechtsreligiösen Parteien in der neuen Jerusalemer Regierung vertreten wird. Inwieweit sich das Leben in Tel Aviv nun verändern werde, könne man derzeit jedoch noch nicht absehen, so Sznaider.

Droht in Israel eine Spaltung?

Klar sei, dass es eine Spaltung gebe zwischen den Orthodoxen und Liberalen im Land, zwischen der konservativen Hauptstadt Jerusalem und der westlichen Metropole Tel Aviv. "Nicht alle sind in Schockstarre, es gibt auch ein großes Milieu, das sich über den Wahlausgang wahnsinnig gefreut hat", erklärt der Soziologe. Klar sei aber auch, dass man aufeinander angewiesen sei. Schließlich ist Tel Aviv nicht nur das liberale, sondern auch das wirtschaftliche und technologische Zentrum des Landes. "Hier ist der Hightech-Bereich, hier ist die Industrie ansässig. Das ist also nicht nur links, das ist auch kapitalistisch – und hier wird die Sicherheit erzeugt, die ja über diesen Bereich läuft." Bedeutet: Die Wehrhaftigkeit Israels, die ja ein wesentlicher Teil der Staatsraison ist, ist ohne Tel Aviv nicht denkbar.

Dass Netanjahu mit Amir Ohana einen offen homosexuell lebenden Mann zum Parlamentspräsidenten gemacht hat, mag man als Signal an die liberale Community sehen, als "Beruhigungspille", wie Natan Sznaider sagt. Auf ihn selbst wirkt sie allerdings nur bedingt. Sorgen machten ihm vor allem die Angriffe auf den israelischen Rechtsstaat. Die Koalition plant eine Rechtsreform, wonach das Parlament mit Zweidrittelmehrheit das Oberste Gericht überstimmen kann. Faktisch eine Aushöhlung der Gewaltenteilung. Er hoffe daher, so Sznaider, "dass diese Regierung sich selbst zerfleischt und bald zur Geschichte gehören wird."

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