Am Dienstag wurden die Wohnungen mehrerer Mitarbeiter der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial durchsucht. Die international angesehene und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsorganisation wurde 2021 auf Anweisung der russischen Behörden aufgelöst. Nun standen am Dienstag etwa bei Alexandra Polivanova, einer Literaturwissenschaftlerin und Projektleiterin bei "Memorial" , zwölf Mann um sieben Uhr morgens vor der Tür: "Sie haben alles auf den Kopf gestellt. Sie durchsuchten alte Fotografien, zogen unter der Badewanne alles hervor, alle Küchenutensilien flogen aus den Schränken", erzählt sie.
Aus "Zeugen" können schnell Angeklagte werden
"Im Wohnzimmer haben sie Kleidung durchsucht, die künstlerischen Arbeiten meines Sohnes und meiner Freunde, sie haben überall nach Dingen gesucht, die mit Memorial verbunden sind. Sie haben alle Computer, alte Telefone und Unterlagen mitgenommen. Befragt wurde ich zu der Datenbank der Opfer politischer Repression. Als ich sie am Ende der Befragung um das Protokoll bat, sagten sie: 'Wollen sie ein Strafverfahren? Dann können wir ihnen das Protokoll mitgeben.'", erzählt Polivanova gegenüber dem BR.
Alexandra Polivanova bekam den Status einer "Zeugin" zugewiesen. Der Projektleiterin bereitet das Sorgen, denn aus Zeugen würden vor Gericht in Russland schnell Angeklagte werden. Zeugen dürfen zudem das Land nicht verlassen und müssen ihren Reisepass abgeben. Neun Wohnungen und der Sitz der Menschenrechtsorganisation wurden am Dienstag in Moskau durchsucht – der Vorwurf: "Rehabilitierung des Nazismus". Staatsmedien berichteten, dass Memorial in die Liste der Opfer staatlicher Repression auch Personen aufgenommen habe, die während des Zweiten Weltkriegs mit den faschistischen Besatzern zusammengearbeitet hätten.
Memorial wichtigste zivilgesellschaftliche Organisation in Russland
Jan Ratschinskij, der Vorsitzende von Memorial, findet nach der Befragung zu diesem vermeintlichen Tatbestand deutliche Worte: "Das ist ein vollkommen lächerliches Verfahren. Die, die heute Befragungen über sich ergehen lassen mussten, sind alle Kinder von Eltern die im Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus gekämpft haben. Viele unserer Verwandten sind im Krieg oder wie in meinem Fall während der Leningrader Blockade umgekommen. Was sie uns vorwerfen ist einfach nur lächerlich. Wer das braucht und warum, ist ja mehr oder weniger klar."
Memorial ist die wichtigste und einflussreichste zivilgesellschaftliche Organisation in Russland, die sich der Aufarbeitung und Dokumentation politischer Verfolgung verschrieben hat - und sind damit ein Dorn im Auge des Regimes, dass sich dem Aufbau eines gefestigten, ideologischen und mobilisierungsorientierten autoritären Systems verschrieben hat.
Auch der Leiter des Rechtsschutzzentrums bei Memorial, Oleg Orlow, will sich gegen das autoritäre System zur Wehr setzen: "Ich wurde angeklagt, Paragraph 283 Diskreditierung, für einen Post bei Facebook. Ich habe dort im November einen Artikel gepostet mit dem Titel: 'Sie wollten Faschismus und sie haben Faschismus bekommen'", berichtet Orlow. "Hier steht, dass ich in den sozialen Medien bei Facebook einen Text publiziert habe, der die Präsenz der russischen Armee auf dem Territorium der Ukraine mit Genozid in Verbindung bringt, mit der Ermordung von Menschen, mit der Zerstörung der Infrastruktur, Wirtschaft und Kulturobjekten."
Memorial-Leiter drohen bis zu 15 Jahre Haft
Orlow drohen nun bis zu 15 Jahre Gefängnis. Als Oleg Orlow 2022 in Oslo den Friedensnobelpreis für Memorial in Empfang nahm, sagte er, der Preis sei Inspiration, biete aber keinen Schutz.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!