Studenten läuft an Plakat vorbei
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In der Internationalen Universität von Moskau

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"Akademische Kloake": Russische Studenten denunzieren Dozenten

Die Internationale Universität in Moskau geriet in die Schlagzeilen, weil sie den Ultra-Nationalisten zu liberal ist. "Patriotische" Journalistik-Studenten befeuerten den Streit mit allerlei Indiskretionen gegen Dozenten, die prompt entlassen wurden.

Der Schutz der Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit seien in Russland eine "Grundvoraussetzung", so Präsident Wladimir Putin in einer Rede beim Jahrestreffen der Staatsanwälte am 15. März. Wie das genau gemeint war, erläuterte er auch: "Ich fordere eine harte Antwort auf Versuche, die gesellschaftspolitische Lage im Land zu destabilisieren." Dabei war es Putin besonders wichtig, dass die Ermittlungsbehörden die Rüstungswirtschaft im Auge behalten, damit die dort eingesetzten Milliarden möglichst effizient eingesetzt und viele Waffen produziert würden. Kein Wunder, dass die in England lehrende, russischstämmige Sozialforscherin Swetlana Stevenson überzeugt ist, dass sich ihr Heimatland gerade stückweise aus der zivilisierten Welt verabschiedet.

"Opfer ist immer selbst schuld"

Längst gelte das Gewaltprinzip, die gesamte Gesellschaft einschließlich der orthodoxen Kirche werde durchgreifend militarisiert: "Wenn der permanente Krieg zur Hauptexistenzform der russischen Gesellschaft wird, hat die [derzeitige] Macht-Elite keine Konkurrenten mehr." Letztlich regierten Putin und seine Getreuen im Geiste ihrer Straßenbanden-Vergangenheit: "Wenn Gewalt nötig wird, ist immer das Opfer selbst schuld, das den Mächtigen nicht genug Respekt zollt." Welche psychischen Auswirkungen diese gedankliche und tatsächliche "Brutalisierung" hat, wurde jetzt an der Russischen Universität der Völkerfreundschaft in Moskau deutlich.

"Er wich unangenehmen Fragen aus"

In der international ausgerichteten Hochschule kam es zu mehreren Denunziationen durch vermeintlich "vaterländische" Journalistik-Studenten. Ein gewisser Michail hatte sich an einen der zahlreichen russischen Militärblogger gewandt und darüber beschwert, dass einer seiner Professoren die Ukraine gelobt und Russland als "schreckliches Land" geschmäht habe. Außerdem sei der Dozent ein Bewunderer des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny und überzeugt davon, dass der Mann vom russischen Geheimdienst vergiftet worden sei.

Damit nicht genug: Der Student regte sich auch darüber auf, dass er von seinem Mentor getadelt worden sei, weil er sich in einem Grundkurs, wo jeder ein "Journalisten-Porträt" schreiben sollte, den viel beschäftigten Kreml-Propagandisten Andrej Medwedew ausgesucht habe. Der sei "kein Journalist", habe der Professor gesagt und ihn bei der Seminararbeit durchfallen lassen. Der offenbar schwer beleidigte Journalistik-Student wollte nach diesem Vorfall vom Nationalisten seines Vertrauens wissen: "Was raten sie mir?"

Ein weiterer Student berichtete von einem seiner Professoren, dass der "spöttisch lächelnd" behauptet habe, in Russland gebe es "derzeit und höchstwahrscheinlich niemals Meinungsfreiheit", weshalb es "ein großer Fehler" sei, in diesem Land Journalismus zu studieren: "Mein Freund und ich versuchten ein paar Mal, mit [Dozent] Suchoi aus der Sicht von Patrioten ins Gespräch zu kommen, aber er wich Fragen aus, die ihm unangenehm waren und konnte gleichzeitig lange über bequeme Themen sprechen, deren Inhalte mit seiner Position übereinstimmten."

"Wilde Ideen im Kopf"

Prompt versprach Militärblogger Sergej Koljesnikow, in diesen Angelegenheiten zu "helfen", was er offenbar auch einhielt: Die kritisierten Professoren wurden nach Informationen russischer Plattformen entlassen. Die Universitätsleitung soll die Lehrbeauftragten demnach dringend gebeten haben, "den Mund zu halten, damit nicht das ganze Haus dicht gemacht" werde. Die Mehrheit der Studenten stehe auf Seiten der denunzierten Dozenten, habe jedoch Angst, die Meinung zu sagen. Angesichts der Tonlage der Debatte wäre das kein Wunder.

Koljesnikow zeterte über "antirussische Gräuel", eine akademische "Kloake" und über eine Petition aus den Reihen der Studenten, die am Dozenten Suchoi festhalten wollten. Diese Vorstellung sei geradezu "widerwärtig", so der Blogger. Derartige Professoren müssten "per SMS oder Telefon gefeuert" werden. Der rechtsextreme TV-Sender "Tsargrad" hielt das russische Bildungssystem für "verrottet" und forderte alle Zuschauer auf, Lehrer zu denunzieren: "Es ist Zeit, eine zweite Front zu eröffnen."

Der erwähnte Propagandist Andrej Medwedew wetterte über "staatsfeindliche Positionen" der gesamten Hochschule. Seine Begründung: Dort würden mit Wissen der Uni-Leitung Online-Seminare abgehalten, bei denen die Dozenten im Ausland säßen und den Studenten beibrächten, "Russland zu hassen". Den jungen Leuten würden "wilde Ideen in den Kopf gesetzt". Seinem studentischen Fan teilte Medwedew mit: "Michael, habe keine Angst, für deine Überzeugungen einzustehen. Und kommen Sie in die [journalistische] Praxis. Ich wäre darüber glücklich." Die E-Mail-Adresse gab es gratis dazu.

"Wenn das Freiheitsgefühl gereift ist"

Garniert wurde diese groteske Belobigung von Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen Ex-Präsidenten) mit einem viel strapazierten Zitat des konservativen russischen Juristen Boris Nikolajewitsch Tschitscherin (1828 - 1904) aus dem Jahr 1861 über "Gossen-Liberale": "Das Markenzeichen dieses landläufigen Freisinnigen ist, dass er alle seine Gegner als Schurken betrachtet. Niedrige Seelen verstehen nur niedere Beweggründe. Deshalb ist er auch bei seinen Mitteln nicht wählerisch. Alles dreht sich um persönliche Eskapaden, um Flüche; skrupellose Interpretationen, giftige Anspielungen, auch Lügen und Verleumdungen werden eingesetzt. Sie versuchen nichts zu beweisen, sondern zu verletzen, zu beleidigen oder zu bespucken."

Das liest sich wie eine Abrechnung mit aufgeklärten Geistern, war vom Urheber allerdings ganz anders gemeint. Der von den Ultra-Patrioten völlig missverstandene Tschitscherin schrieb im selben Aufsatz über "Verschiedene Arten des Liberalismus" nämlich auch: "Wenn das Freiheitsgefühl gereift und tief im Herzen verwurzelt ist, wenn es darin fest verankert ist, dann hat der Mensch um seine Unabhängigkeit nichts zu befürchten."

"Warum sollten sie ohne Flagge teilnehmen?"

Mit der Unabhängigkeit scheint es an der Universität der Völkerfreundschaft in Moskau derzeit nicht sonderlich gut bestellt. Anfang März gab es dort einen großen Skandal, weil Studenten, die aus der Ukraine stammen, bei einem Kulturfest einen Stand mit ihrer heimischen Flagge aufgebaut hatten, wie auch die Kommilitonen aus allen anderen an der Hochschule vertretenen Nationen. Das empörte sogar Kremlsprecher Dmitri Peskow. Dagegen hieß es im liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant": "Warum sollten sie ohne Flagge an der Veranstaltung teilnehmen? Mit einem leeren Tisch? Irgendwie klappt das nicht sonderlich gut. Die Ukraine ist Mitglied der UN, ein von der Weltgemeinschaft anerkannter Staat."

In Russland gebe es zur Zeit "mehr als genug Feindschaft", bilanzierte Kommentator Dmitri Drise, es habe jedoch "Probleme mit der Freundschaft". Die Uni solle ihrem Namen alle Ehre machen und "Menschen verschiedener Nationalitäten vereinen und nicht trennen".

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