Nur noch zwei Jahre abwarten, und der russische Sicherheitsrat wird älter sein, als das sowjetische Politbüro jemals war, so die Recherchen der "Moscow Times", die penibel nachrechnete. Demnach haben Putins engste Vertraute aktuell ein Durchschnittsalter von knapp 65 Jahren und sind damit schon jetzt betagter als das Spitzengremium der Kommunisten unter Gorbatschow kurz vor der Auflösung der Sowjetunion. Im Jahr 1981 erreichte das damalige KPdSU-Politbüro sogar ein "biblisches" Durchschnittsalter von knapp 68 Jahren, das war absoluter Rekord - der jetzt allerdings gefährdet scheint.
Acht Millionen Rentner gehen weiter arbeiten
Fast alle Führungspersonen sind längst im Rentenalter: Putin selbst ist 70, sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu 67, Außenminister Sergej Lawrow 72, Geheimdienstchef Sergej Naryschkin 68, Armeechef Waleri Gerassimow 67, Innenminister Wladimir Kokolzew 61, Ex-Verteidigungsminister Sergej Iwanow 70. Und Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ("Gruppe Wagner") zählt auch schon 61 Jahre. Nach russischem Recht dürfen öffentlich Bedienstete bis maximal 70 arbeiten. Ironisch bemerkt die "Moscow Times", dass die durchschnittliche Lebenserwartung eines russischen Mannes derzeit bei nur noch 66 Jahren liegt. Wohl durch die Corona-Pandemie war dieser Wert im Jahr 2020 drastisch gesunken.
"Der Zustand der russischen Wirtschaft verschlechtert sich. Der Krieg ist verloren. Immer mehr Leichen kehren nach Russland zurück, so dass die Russen ein härteres Leben haben werden, und sie werden versuchen, eine Erklärung dafür zu finden, warum das geschieht und sich umsehen, wie die politischen Prozesse ablaufen, und sie werden sich ihre Frage selbst antworten: 'Nun, das liegt daran, dass unser Land von einem alten Tyrannen, einem alten Diktator regiert wird.'", so Putins früherer Redenschreiber Abbas Galljamow.
"Alle warten nur auf eine Nachricht"
Im Ausland lebende russische Blogger werden nicht müde, Putin als "einsamen, alten Mann" zu schmähen: "Das Standard-Ende aller Diktatoren. Wenn dich niemand braucht, bist du überflüssig. Und alle warten nur auf eine Nachricht."
Russische Meinungsforscher verweisen immer wieder darauf, dass die ältere, von der Sowjetunion geprägte Generation, mehrheitlich zu den leidenschaftlichsten Kriegsbefürwortern gehört, während unter den Jüngeren die Skepsis deutlich größer ist, am ausgeprägtesten bei denen, die eine Einberufung fürchten müssen. Putins Propagandisten wissen, dass die Rentner ihre treueste Klientel sind und stellen ständig "Rentenanpassungen" in Aussicht, zumal die Inflation die Realeinkommen auffrisst. Angeblich arbeiten aktuell rund acht Millionen Rentner weiter, um ihr Auskommen zu sichern. Die Durchschnittsrente in Russland liegt aktuell bei umgerechnet rund 220 Euro.
"Russen sind dem Staat absolut verpflichtet"
Über die große Zustimmung der älteren Generation zur Politik der ebenfalls betagten Kremlführung schreibt Experte Andrej Kolesnikow im Fachblatt "Foreign Affairs": "Es hilft, dass viele Russen dem Staat absolut verpflichtet sind. Laut amtlicher Statistik ist der Anteil der Sozialleistungen am Realeinkommen der Bevölkerung heute größer als zu Sowjetzeiten. Trotz des Aufkommens einer Marktwirtschaft und einer nicht unbedeutenden Klasse von Unternehmern hat Putin alles getan, um sicherzustellen, dass die wirtschaftliche Rolle des Staates so groß wie möglich bleibt." Andere Experten behaupten sogar, die russische Gesellschaft sei geradezu "süchtig" nach Sozialleistungen.
"Angesichts des Ausmaßes der Repression ist es unrealistisch, einen Massenaufstand gegen Putin zu erwarten, zumal die meisten gewöhnlichen Russen es vorziehen, den Kopf in den Sand zu stecken und eine bizarre Rationalität und Wahrheit in der Logik des Regimes zu finden", so Kolesnikow: "Die Menschen wollen nicht auf der Seite des Bösen stehen, also bezeichnen sie das Böse als gut und zwingen sich damit zu glauben, dass Putin Frieden bringt." Im Grunde sei es wieder wie zu Sowjetzeiten: Die ehrliche Meinung werde nur noch am Küchentisch "geflüstert".
"Perfekter Sturm" in der Demographie
Nicht nur die Kremlführung ist in Russland völlig überaltert. Das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung liegt aktuell bei 40,5 Jahren, Tendenz weiter steigend. Beim Untergang der UdSSR 1990 waren es noch knapp 35 Jahre. Die Geburtenrate im Land sinkt drastisch: Fachmann Igor Jefremow rechnet damit, dass die Frauen im gebärfähigen Alter im laufenden Jahr nur noch durchschnittlich 1,2 Kinder haben werden, was ein negativer Rekordwert wäre. Andere Forscher sprechen sogar von einem "perfekten Sturm" in der Demographie, gespeist aus Massenauswanderung, Krieg und rückläufiger Geburtenrate.
Am 1. August vergangenen Jahres hatte Russland innerhalb seiner heutigen Grenzen noch 145,1 Millionen Einwohner, deutlich weniger als am Ende der Sowjetunion (148,3 Millionen im Jahr 1991). Allein im vergangenen Jahr schrumpfte Russland um 555.000 Einwohner. Am Ende des Jahrhunderts könnte das Land nur halb so viele Bürger zählen wie derzeit, rund siebzig Millionen, und damit weniger Einwohner haben als das heutige Deutschland (83,2 Millionen).
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