Aktivisten vor Gemälde mit Dose
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Anschlag mit Tomatensuppe auf ein van-Gogh-Gemälde in London

    2022 war das Jahr des Aktivismus in der Kultur

    Sie warfen Lebensmittel auf berühmte Gemälde, klebten an Bilderrahmen oder am Dirigentenpult: 2022 war im Bereich der Kultur das Jahr der Klima-Aktivisten – vor allem in Sachen Social-Media-Reichweite. Doch sie unterliegen dabei einem Irrglauben.

    Fotografen stellen sich jetzt mitunter als "visuelle Aktivisten" vor. Als solche waren sie 2022 auch mit der Kamera dabei, als Klimaaktivisten der "Letzten Generation" und von deren Ablegern "La Ultima Generazione", "Just Stop Oil" und "Dernière Rénovation" in Museen Gemälde bekleckerten mit verschiedenerlei Lebensmitteln und sich anschließend an deren Rahmen und Schutzgläsern fixierten – auf dass den armen Modellbauern und Bastlern endgültig der Sekundenkleber auszugehen drohte.

    Er kam sehr apokalyptisch, sehr endzeitig und untergangsselig daher, dieser Aktivismus, aber das ist schon immer einer seiner Wesenszüge gewesen. Nicht umsonst hat der Philosoph Karl Raimund Popper in seinem Klassiker "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" vor langem bereits geschrieben: "Ein Element blanker Verzweiflung steckt unverkennbar in dem 'grimmigen' Aktivismus, der denen bleibt, die die Zukunft voraussehen und die sich als Werkzeuge ihrer Ankunft fühlen."

    Aus Gelehrten werden Gefährten, Klimaaktivisten

    Vor gut hundert Jahren noch hat einer der ersten Aktivisten überhaupt, er hieß Kurt Hiller, in seiner "Ortsbestimmung des Aktivismus" festgehalten, dass der Aktivist "nicht Forscher, sondern Forderer" sei. Mittlerweile formieren sich Wissenschaftler zu aktivistischen Gruppierungen, nennen sich "Scientist Rebellion" oder "Scientists for Future" – so werden aus Gelehrten Gefährten der Klimaaktivisten. Nicht nur das hat sich geändert: War der Aktivismus, als er um 1920 herum das erste Mal sein Haupt hierzulande erhob, eine männliche Domäne und die Angelegenheit einiger Weniger, so sind die Aktivisten unserer Tage prägende Zentralfiguren, sie sind sehr viele und – sieht man nur auf ihre Wortführerinnen – ein weibliches Phänomen.

    Luisa Neubauer, um nur die prominenteste deutsche Vertreterin zu nehmen, veröffentlichte 2022 ein Buch: "Gegen die Ohnmacht". Darin steht der Satz: "Niemand macht einen größeren Fehler als derjenige, der gar nichts macht, weil er nicht alles machen kann." Eine Maxime, die vom Philosophen Edmund Burke stamme, so die 26-Jährige, was klug und belesen anmutet, aber leider überhaupt nicht stimmt. Es ist ein Kuckuckszitat. Edmund Burke hat derlei nie geschrieben. Man kann das überprüfen.

    Aktivisten-Schelte in den Sozialen Netzwerken

    Die "Empörungsenergie", die nicht nur für Luisa Neubauer den Aktivismus kennzeichnet, schlägt ihm heute oft genug entgegen. Man täusche sich nicht: Es sind nicht allein Alte, die aufstöhnen und fragen, was das denn bringt, wenn wer die Hände zum Zwecke der Weltenrettung an das Geländer des Dirigentenpults in der Hamburger Elbphilharmonie bappt.

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    Aktivisten auf der Bühne der Elbphilharmonie

    In einem Tweet machte die junge österreichische Schriftstellerin Stefanie Sargnagel in diesem Sommer ihrem Unmut Luft über – Zitat – "dieses oberflächliche, selbstgefällige, passiv-aggressive, erzieherische Aktivismus-Verständnis", das ihr "einfach so abgehoben" erschien. Kaum hatte die 36-jährige Österreicherin ihren ingeniösen Schmäh über "Instagram-Aktivismus-Aufforderungen von so Ärztekindern, Waldorfschülerinnen" veröffentlicht, löschte sie ihn auch gleich wieder, denn auch das ist eine der Lehren dieses Jahres: Man kritisiert Aktivistinnen und Aktivisten nicht ungestraft.

    Gerade online, in den ach so sozialen Medien können sie jene, die ihnen die tumbe Gefolgschaft verweigern, mit Inbrunst anklagen. Hier laden sie die Videos ihrer spektakulären Aktionen hoch, hier werden sie millionenfach geklickt, hier sammeln sie ihre Likes. Sie sind, kein Zweifel, Genies jener "Ökonomie der Aufmerksamkeit", in der wir alle leben. Doch ist der Aktivist eben nicht nur die Ikone dieser Aufmerksamkeitsökonomie, er ist gleichermaßen ihr Opfer, denn er und sie erliegen dem Irrglauben, dass Visibilität und die viel beschworene Reichweite die alles entscheidenden Währungen seien. Dabei wissen sie doch, wie schwer sich der Erfolg im gelobten Land Digitalien in realen gesellschaftlichen Wandel ummünzt.

    2022 hat uns Autorinnen geschenkt, die sich als "Sprachaktivistinnen" deklarierten; "erinnerungskulturelle Aktivisten", die Denkmäler vom Sockel holten wie etwa sowjetische Ehrenmäler im Baltikum; Künstlerkollektive, die die documenta in Kassel zu einer großflächigen activista geraten ließen und uns den Typus des "kreativen introvertierten Aktivisten" in Gestalt des BDS-Propagandisten Hamja Ahsan bescherten.

    Das "Peng!"-Kollektiv, laut Selbstbeschreibung "ein explosives Gemisch aus Aktivismus, Hacking und Kunst im Kampf gegen die Brutalität unserer Zeit", träumte zum Ende des Jahres hin von "ein bisschen Bungeejumping in den Bundestagsplenarsaal, das gibt unser Welt wieder Sinn." Dadaismus, dachte man da bei sich. Dabei waren ausgerechnet die Dadaisten vor gut hundert Jahren die größten Gegner der ersten Aktivisten und ziehen diese der "Moralidiotie". Und wie geht es nun weiter? Der Münchner Antje-Kunstmann-Verlag annonciert für das Frühjahr 2023 ein "politisches Mitmachbuch für Aktivist:innen". Titel: "Aktivistmuss". Die Verfasser haben es offenbar erkannt: Aktivismus, das ist das, wo jeder mitmuss.

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