84

Grafing und die Medien Dann war's halt die "Lügenpresse"

Die Bluttat von Grafing hat die Menschen erschüttert - aber auch die Gemüter erregt. Haben die Medien richtig berichtet? Im Internet kursiert ein Gerücht, und sofort ist das Stichwort "Lügenpresse" in der Welt. Eine Nachlese.

Von: Astrid Halder

Stand: 12.05.2016 | Archiv

Pressekonferenz zur Bluttat von Grafing | Bild: picture-alliance/dpa

Vorgestern - kurz vor fünf Uhr früh. Ein Mann mit einem Messer attackiert mehrere Menschen an der S-Bahn-Station Grafing. Zeugen sagen, er habe "Allahu Akbar" gerufen, und "Ihr seid Ungläubige, Ihr müsst sterben“. Die Gerüchteküche im Netz kocht. Bald heißt es: Islamistischer Hintergrund bestätigt.

Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger hat gestern die Twitter-Nachrichten beobachtet. Im Netz kann jeder zum Berichterstatter werden:

"Das fängt damit an, dass die Augenzeugen vor Ort anfangen, zu berichten, was sich vor ihren Augen gerade abspielt. Und damit sind natürlich die Nachrichten ganz schnell in der Welt. Das schafft keine Nachrichtenagentur, das schafft kein Reporter, so schnell vor Ort zu sein und berichten zu können. Das lässt sich auch gar nicht unterbinden."

Christoph Neuberger, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU München

Redaktionen unter Zeitdruck

Viel wichtiger sei es dann, dass sich die Redaktionen nicht unter Zeitdruck setzen lassen, so Neuberger. Doch genau das ist vorgestern passiert. Obwohl offiziell zu diesem Zeitpunkt nur bekannt ist, dass die Polizei vor Ort ermittelt, der vermutliche Täter festgenommen ist und seine Identität geklärt wird, twittert der Münchner Merkur: "Islamisten-Attacke". Auch die Nachrichtenagentur AFP springt auf und meldet: "Polizei spricht von politischem Hintergrund".

Diese falsche Agentur-Meldung schlägt auch in der Online-Redaktion des Bayerischen Rundfunks auf. Doch die Journalisten waren hier vorsichtig, erklärt die stellvertretende Redaktionsleiterin von BR24, Gudrun Riedl:

"Die Quellenlage war zunächst etwas unsicher, ist es eine Messerattacke, eine Beziehungstat, ist es mehr, eben dieser islamistische Hintergrund. Und da sehen wir sehr genau hin, bevor wir Eilmeldungen absetzen."

Gudrun Riedl

Zu Recht, denn bei der offiziellen Pressekonferenz wird klar: Es gibt wohl keinen terroristischen Hintergrund. Der mutmaßliche Täter sei ein 27-jähriger, lediger Deutscher, so das Bayerische Landeskriminalamt. Es gäbe bislang keine Hinweise darauf, dass er Teil eines islamistischen Netzwerks wäre, so das LKA in der PK.

Das perfide Spiel rechter Online-Portale

Doch das wollen rechte Online-Portale wie die "PI News" nicht glauben, sie sprechen von einer "Täter-Lüge" und bezweifeln, dass der Mann ein Deutscher ist. Christoph Neuberger kennt das Phänomen:

"Wir haben es hier mit typischen Merkmalen von Verschwörungstheorien zu tun, das man jedes Indiz, jeden Anfangsverdacht in diese Richtung dreht. Es gäbe Absprachen zwischen allen Redaktionen. Das ist gar nicht machbar, würde ich sagen. Wir haben eine große Pressevielfalt und Konkurrenz zwischen den Redaktionen. Es ist undenkbar, dass es Absprachen geben kann."

Christoph Neuberger, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU München

Rechte Publizisten attackieren auch die öffentlich-rechtlichen Medien direkt, per Twitter - als "Lügenpresse". Die BR-Journalistin Gudrun Riedl will das so nicht stehen lassen und berichtigt per Tweet den "Lügentwitterer". Doch nicht nur einschlägige Rechte verhalten sich so, auch viele unbekannte User.

"Teilweise werden neue gesicherte Informationen nicht zur Kenntnis genommen, da wird weiter an die Lügenpresse geschrieben und getwittert, gefacebookt: Warum schreibt Ihr das nicht, warum berichtet Ihr nicht von einem islamistischen Hintergrund, den hat es doch gegeben, sonst würde dieser Mann doch nicht ‚Allahu akbar‘ rufen."

Gudrun Riedl

Doch die Wirklichkeit ist eben nicht so einfach, wie viele das gern hätten. Und manch Unerklärbares bleibt einfach unerklärbar.


84

Kommentieren

ZDFinfo Doku Kucker, Montag, 16.Mai 2016, 22:53 Uhr

16. Einfach mal ein Lob an die ganze Online Redaktion

Heute habe ich die ZDFinfo Doku "Shitstorm: Und plötzlich ist alles anders" gesehen. Eure ZDF Kollegen haben das sehr gut anschaulich gemacht. Ich bin der Meinung der BR leistet hervorragende Arbeit. Sowohl in der Berichterstattung und der gebotenen Objektivität, als auch der vielen Hintergrundberichte mit ihren vielfältigen Facetten.
Nach diesem Film bekommt man ein Eindruck, welchen "Qualen" die Onliner ausgesetzt sind. Leute, lasst den "verquirlten" Blödsinn mancher ach so freundlichen Mitmenschen nicht an euch persönlich ran. Ich habe volles Verständnis, wenn publikationsuntaugliches auch genauso behandelt wird - trash.
Kritikfähig müsst ihr sein und seid ihr auch. Das kann jedermann in Antworten herauslesen. Aber beleidigendes oder gar hetzerisches Betrunkengejohle muss niemand lesen.
Danke für tolle Berichte und die unermüdliche Arbeit.
Nutzer sollten schon ab und an auch mal ein kleines Dankeschön mitteilen.

Viktor E.

Sebastian, Samstag, 14.Mai 2016, 15:51 Uhr

15. Leider

War der Täter ein Deutscher, dann wird es explizit betont.
Ist der oder die Täter mit Migrationshintergrund, dann lässt man diese Information in der Regel weg.
Warum ist das so?

  • Antwort von Redaktion BR24, Samstag, 14.Mai, 16:17 Uhr

    Der Grund liegt darin, Diskriminierungen zu vermeiden. In der Richtlinie 12.1 des Pressekodex heißt es zur Berichterstattung über Straftaten: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte."

Tell me lies, Samstag, 14.Mai 2016, 00:18 Uhr

14. Konsumenten sind doch selbst schuld...

...und erwarten eine Täterüberführung bevor die Polizei am Tatort eintrifft, sehr überspitzt ausgedrückt. Nur die Zeitung mit den "gebildeten" Buchstaben schafft das ;-)

@BR
Vielleicht mal eine Anregung, darüber eine Doku abzudrehen?
- Mitteilung eines Notrufes
- Einsatzmanagement der Pi, Fw und RD
- Eintreffen, Lagebewertung, Nachalarmierung etc.
- viele viele weitere Punkte z.B. Tatbestand, Umstände, Besonderheiten der Tat, Einsatzortes ....
- Info der Presse durch Quelle, Polizei, Privatpersonen usw.
- Pressemitteilung 1. Meldung usw...
- Redaktionsbesprechungen? Auswertung der bekannten Information, weitere Recherchen usw.
Je nach Delikt oder Verlauf unterschiedlicher Fortgang.

Vielleicht würde es für manchen Mitmenschen begreifbarer wie ein Polizeieinsatz, Feuerwehr oder Rettungseinsatz abläuft mit gleichzeitiger Beleuchtung der daraus entstehenden Nachrichten und dieser Verarbeitung bis zur Publikation.

Net Liscenser, Samstag, 14.Mai 2016, 00:04 Uhr

13. Ist doch nur ein Versuch der Manipulation des kleinen Mannes...

...und der eher minderbegabten, nicht argumentationsfähigen Mitmenschen. Es ist schnell gepostet und man muss sich nicht weiter darum kümmern.
Häufig lese ich Kommentare, bei denen Nachfragen nicht beantwortet werden und unerwünscht sind. Manche Fragen sind vielleicht unangenehm. Andere wollen einfach nur ihre "Mini-Headline" los werden, ohne sich Gedanken und Begründungen ihrer Inhalte zu machen.

Sind die User reif für den verantwortlichen Umgang mit moderner Kommunikationstechnik? Die heute beschlossenen Gaffergesetze stellen das in Frage. Ähnlich verhält es sich mit unüberlegten posts. Über die leichtsinnige Smartphonenutzung im Strassenverkehr will ich nicht weiter nachdenken. Alles nur für eine "like"?

Heribert Beckmann, Donnerstag, 12.Mai 2016, 09:13 Uhr

12. Dann war's halt die "Lügenpresse"

Man darf sich nicht wundern, das die rechtsradikale Seite sofort auf den Zug aufspringt und noch etwas hinzufügt. Es ist sehr schwer an die richtige Informationen zu kommen. Etwas sehen und Hochladen, twittern ist schnell geschehen, aber die wahrheitlichen Kommentare fehlen. Es dauert halt, bis die Wahrheit, das wirkliche geschehen an die Öffentlichkeit dringt. Diese Informationen müssen auch bestätigt werden und sein.
Wie man schon in den 80igern bei uns in NRW sagte : Bild sprach zuerst mit dem Toten, aber Express war schneller !!