Hilfskräfte in Hatay im Einsatz
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Hilfskräfte in Hatay im Einsatz

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Zahl der Erdbeben-Toten auf mehr als 35.000 gestiegen

Knapp eine Woche nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 35.000 gestiegen. Die türkische Justiz geht gegen Bauunternehmer vor. Die Vereinten Nationen räumen Versäumnisse in Syrien ein.

Eine Woche nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und Syrien steigt die Zahl der Toten weiter. Am Sonntag wurde die Schwelle von 35.000 bestätigten Opfern überschritten.

Allein in der Türkei starben laut türkischen Behörden mindestens 29.605 Menschen, in Syrien nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mindestens 5.900 - und damit weit mehr als bislang angenommen. Mehr als 85.000 Menschen wurden zudem in den beiden Ländern verletzt. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnet mit bis zu 50.000 Toten und mehr, wie er dem Sender Sky News im Erdbebengebiet Kahramanmaras sagte. Die Türkei spricht inzwischen von einem Jahrhundert-Erdbeben.

Noch werden Überlebende aus den Trümmern gezogen

Noch gibt es immer wieder Berichte über Rettungen - aber es werden weniger: Am Sonntag wurden im türkischen Adiyaman zwei Schwestern gerettet, die 153 Stunden in Kälte und Schutt überlebt hatten, wie der TV-Sender Habertürk berichtete. Der Sender zeigte zudem, wie in der Stadt ein Sechsjähriger aus den Überresten des Hauses seiner Familie geholt wurde.

140 Stunden nach dem Beben wurde türkischen Berichten zufolge ein sieben Monate alter Junge lebend aus den Trümmern in der Provinz Hatay geborgen. In Hatay war demnach zuvor auch eine Zweijährige gerettet worden. In Antakya sei ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus einem eingestürzten Gebäude geholt worden. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das THW Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland rettete eine 88-Jährige nach 140 Stunden aus Trümmern in der Stadt Kirikhan. Sie war 140 Stunden in dem eingestürzten siebenstöckigen Wohnhaus eingeschlossen.

Große Zerstörung im Erdbebengebiet
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Große Zerstörung im Erdbebengebiet

Überlebende suchen in Leichenhallen nach Angehörigen

Die Chancen, noch Überlebende zu bergen, werden mit fortschreitender Zeit und angesichts der winterlichen Temperaturen jedoch immer geringer. Neben den türkischen Rettungsteams sind derzeit laut türkischem Außenministerium mehr als 8.000 Helfer aus 68 Ländern in der Türkei im Einsatz. Es wurden provisorische Leichenhallen in Parkhäusern, Stadien und Turnhallen eingerichtet, in denen verzweifelte Familien nach ihren toten Angehörigen suchen. Zudem versuchen viele Überlebende, das Katastrophengebiet zu verlassen. Sie reisen in Bussen beispielsweise nach Antalya und Istanbul.

Mehr als 1,5 Millionen Menschen in Zelten

Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz. Bei Besuchen in der Erdbebenregion versprach er, innerhalb eines Jahres die Städte wieder aufzubauen - wie das angesichts der riesigen Region, die zerstört wurde, gelingen soll, ist unklar. Inzwischen nimmt die Kritik am Krisenmanagement zu. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag wurde zum Beispiel am Freitag bei einem Besuch in Diyarbakir ausgebuht. Berichten zufolge wurden Protestierende festgenommen und vernommen. Viele Menschen beklagen, nicht ausreichend Hilfe bekommen zu haben. Teilweise schlägt die Verzweiflung auch in Wut um.

Wegen einer Verschlechterung der Sicherheitslage im Erdbebengebiet in der Provinz Hatay setzten ISAR Germany und das Technische Hilfswerk (THW) in Abstimmung mit Afad am Samstag ihren Einsatz aus. Beide Organisationen wollten ihre Arbeiten wieder aufnehmen, sobald die Lage wieder als sicher eingestuft wird. Auch das österreichische Bundesheer hatte seinen Rettungseinsatz vorübergehend ausgesetzt.

Gefahr von Krankheiten wächst

Derweil wächst die Gefahr von Krankheiten. "In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen", sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. "Die Kunst der nächsten Tage wird es sein, Hilfe dorthin zu bringen, wo sie benötigt wird." Bei der Größe der Region sei es aber so gut wie unmöglich, überall die nötige Infrastruktur bereitzustellen.

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Weiter Schwierigkeiten bei Hilfe für Erdbebenopfer in Syrien

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht mittlerweile davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen Menschen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten. Vor allem in das von Rebellen kontrollierte Gebiet in Syrien ist bisher nur wenig Hilfe gekommen.

Der türkische Außenminister Çavuşoğlu teilte mit, die Türkei arbeite daran zwei weitere Grenzübergänge nach Syrien zu öffnen. Bisher nur einer geöffnet.

UN-Nothilfekoordinator: "Haben die Menschen bisher im Stich gelassen"

Die Vereinten Nationen räumten inzwischen Versäumnisse bei der Hilfe für die Opfer im Nordwesten Syriens ein. "Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen", schrieb der UN-Nothilfekoordinator Griffiths am Sonntag bei Twitter während eines Besuchs in der syrisch-türkischen Grenzregion. Diese Menschen hätten das Gefühl, man habe sie aufgegeben. "Sie halten Ausschau nach internationaler Hilfe, die nicht eingetroffen ist." Es sei seine Pflicht, diese Fehler so schnell wie möglich korrigieren zu lassen, erklärte Griffiths.

In sozialen Medien machten über das Wochenende Fotos die Runde von Aktivisten, die über der stark betroffenen Kleinstadt Dschindiris die blaue Flagge der Vereinten Nationen kopfüber hissten. Familien der Opfer würden die UN damit symbolisch verurteilen, weil diese keine Hilfe für die Verschütteten möglich gemacht hätten, schrieb der bekannte syrische Oppositionelle Usama Abu Said. Mindestens 870.000 Menschen in beiden Ländern müssen nach Angaben der UNO mit warmen Mahlzeiten versorgt werden, bis zu 5,3 Millionen Menschen könnten allein in Syrien obdachlos geworden sein.

Justiz geht gegen Bauunternehmer vor

Der türkische Vize-Präsident Fuat Oktay sagte, die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet. Mehrere Verdächtige, die gegen Bauvorschriften verstoßen haben sollen, wurden gefasst: Ein Unternehmer, der für die Bauleitung zahlreicher eingestürzter Gebäude in Adiyaman verantwortlich gewesen sein soll, sei mit seiner Ehefrau am Istanbuler Flughafen gefasst worden, meldete die Nachrichtenagentur DHA. Die beiden hätten sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen.

Bauunternehmer wollte sich nach Georgien absetzen

Nach offiziellen Angaben ermitteln die Staatsanwaltschaften inzwischen gegen mehr als 130 Menschen, die dafür verantwortlich sein sollen, dass Gebäude eingestürzt sind. Gegen mehr als 100 wurde bereits Haftbefehl erlassen. In den vergangenen Tagen gab es vermehrt Berichte über Verstöße gegen die Bauvorschriften und Häuser, die trotz der bekannten Gefahr, nicht erdbebensicher gebaut worden waren. Nach offiziellen Angaben ermitteln die Staatsanwaltschaften inzwischen gegen mehr als 130 Menschen, die dafür verantwortlich sein sollen, dass Gebäude eingestürzt sind. Gegen mehr als 100 wurde bereits Haftbefehl erlassen.

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2.000 Nachbeben in der Region.

Festnahmen wegen Plünderungen

Zudem wurden türkischen Behörden zufolge mindestens 48 Menschen wegen mutmaßlicher Plünderungen festgenommen. Allein in der Provinz Hatay seien 42 Verdächtige festgenommen worden, bei denen größere Geldsummen, Schmuck, Bankkarten, Computer, Handys sowie Waffen gefunden worden seien, berichtete Anadolu unter Berufung auf Sicherheitsvertreter.

Laut einem ebenfalls am Samstag im Amtsblatt veröffentlichten Erlass können Staatsanwälte in den zehn Erdbebenprovinzen im Rahmen des von Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgerufenen Notstands mutmaßliche Plünderer sieben Tage lang in Gewahrsam nehmen. Bisher waren es vier Tage. In den sozialen Medien sind Videos zu sehen, wie angebliche Diebe von Sicherheitskräften geschlagen und getreten werden. Unabhängig bestätigen lassen sich die Berichte nicht. Erdogan hatte ein hartes Vorgehen gegen Plünderer angekündigt.

Menschenrechtler besorgt über mutmaßliche Misshandlungen

Die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat sich angesichts von Berichten über mutmaßliche Misshandlungen im Erdbebengebiet besorgt gezeigt. "Es kursieren viele schockierende Bilder von Polizisten und Zivilisten, die solche Personen verprügeln und brutal behandeln, die nach dem Beben Gebäude geplündert haben sollen", schrieb HRW-Vertreterin Emma Sinclair-Webb auf Twitter.

Zuvor waren nicht verifizierte Videos in den sozialen Medien aufgetaucht, die zeigen sollen, wie mutmaßliche Plünderer geschlagen werden. Die Tagesszeitung "Birgün" berichtete, zwei Männer aus Hatay hätten angegeben, von Sicherheitskräften geschlagen worden zu sein, nachdem sie fälschlicherweise für Plünderer gehalten wurden. Sie hätten aber lediglich Medikamente für ihre Familien besorgen wollen. Das Online-Medium Diken berichtete, in Adiyaman seien fünf freiwillige Helfer misshandelt worden. Die Berichte konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Mit Informationen von AFP, dpa und AP

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