Für den Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) in Deutschland Markus N. Beeko ist der Fall klar: Bei der Vorstellung des ai-Jahresberichts 2021 erklärte er Anfang dieser Woche, Russlands Staatsführung habe mit dem Einmarsch in die Ukraine nicht nur massiv das Völkerrecht verletzt. Seit Beginn des Kriegs habe Amnesty zudem wahllose Angriffe auf Krankenhäuser, Wohngebiete und Kindergärten verifiziert, ebenso den Einsatz verbotener Streumunition. "Dies sind Kriegsverbrechen", so Beeko.
Klare Anzeichen für Kriegsverbrechen in der Ukraine
Juristinnen und Juristen formulieren da grundsätzlich vorsichtiger. Doch auch Kerstin von der Decken, Professorin für Völkerrecht und Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Kieler Christian-Albrechts-Universität, meint, es gebe klare Anzeichen für Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg. Darauf deuteten die zahlreichen Bilder von angegriffenen Krankenhäusern und Fluchtkonvois, zerschossenen Wohnblöcken und Theatern hin.
Im juristischen Sinne sind Kriegsverbrechen Verstöße gegen das sogenannte humanitäre Völkerrecht, das insbesondere Regeln für den Krieg festlegt – ein komplexes System, das seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurde und vor allem in den sogenannten Genfer Konventionen von 1949, dem Genfer Zusatzprotokoll von 1977 und weiteren internationalen Verträgen niedergelegt ist. Kriegsverbrechen sind demnach zum Beispiel vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Objekte wie Krankenhäuser, Kirchen oder Museen.
Internationaler Strafgerichtshof ist zuständig
Geahndet werden können Kriegsverbrechen einerseits von nationalen Gerichten, vor allem aber vom extra dafür eingerichteten Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, der 1998 gegründet wurde und einige Jahre später seine Arbeit aufgenommen hat. Allerdings gilt das nur, wenn die betreffenden Staaten das Statut des IStGH unterzeichnet haben, was Russland und die Ukraine bislang nicht getan haben.
Aber die Ukraine hat 2013 die Strafgerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes für das eigene Territorium anerkannt. Damit fällt das, was seit 2013 in der Ukraine geschehen ist und geschieht, grundsätzlich unter die Jurisdiktion des Strafgerichtshofs, insbesondere mögliche Kriegsverbrechen der russischen, aber auch der ukrainischen Armee.
Erste Ermittlungen laufen
Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, hat deshalb in Sachen Ukraine schon Anfang März offiziell Ermittlungen aufgenommen. Grundlage dafür war, dass rund 40 Vertragsstaaten des Strafgerichtshofes eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen hatten. Laut dem Völkerrechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz geht es nun vor allem darum, Informationen zu sammeln.
Das immerhin ist im Zeitalter von Smartphones und sozialen Netzwerken, über die seit Kriegsbeginn unzählige Fotos und Videos aus dem Konfliktgebiet verbreitet werden, deutlich einfacher als früher. Auch wenn diese Informationen natürlich verifiziert werden müssen. Es werde in jedem Fall Jahre dauern, bis es möglicherweise zu einer Anklage kommt, so Thym: "Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass der Krieg in der Ukraine in ganz naher Zukunft juristisch aufbereitet wird."
Und selbst wenn irgendwann ausreichend Beweise gesammelt worden sind, heißt das noch lange nicht, dass es auch einen Prozess geben wird. Denn Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof können nur dann geführt werden, wenn die Beschuldigten auch wirklich auf der Anklagebank in Den Haag Platz nehmen.
Putin auf der Anklagebank – eher unwahrscheinlich
Im Fall des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic dauerte es Jahre, bis Serbien dem internationalen Druck nachgab und den Beschuldigten an die internationale Gerichtsbarkeit – in diesem Fall das Jugoslawientribunal – auslieferte. Im Fall möglicher Kriegsverbrechen der russischen Seite in der Ukraine dürfte es ähnlich große Schwierigkeit geben, fürchtet der Völkerrechtler Thym: "Die russischen Behörden werden nicht bereit sein, die Leute auszuliefern."
Schon gar nicht, wenn es dabei um den aktuellen Präsidenten geht. Denn grundsätzlich könnte auch Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden, sagt die Kieler Professorin von der Decken. Mit einer Anklage rechnen müssten sowohl diejenigen, die unmittelbar geschossen haben, als auch diejenigen, die das Kommando dazu gegeben oder einen Angriff organisiert haben – bis hin zur Spitze der Armee und zum Staatsoberhaupt. Immer vorausgesetzt, es gibt Beweise für ihre Verantwortung. Dass Putin jemals in Den Haag auf der Anklagebank Platz nehmen muss, erscheint aktuell jedenfalls höchst unwahrscheinlich.
Kriegsverbrechen auch in vielen Staaten Asiens und Afrikas
Angesichts des Krieges in der Ukraine sollte allerdings nicht vergessen werden, dass auch anderswo Kriegsverbrechen an der Tagesordnung sind und viel zu oft ungeahndet bleiben, so Amnesty International – laut dem aktuellen ai-Jahresbericht zum Beispiel in Syrien, Afghanistan, Myanmar, dem Jemen und vielen Staaten Afrikas. Umso wichtiger sei es aber, mögliche Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine konsequent zu verfolgen, sagt ai-Generalsekretär Beeko.
In der Vergangenheit seien mutmaßliche russische Kriegsverbrechen zu oft ohne strafrechtliche oder andere Konsequenzen geblieben, etwa Bombardierungen in Tschetschenien oder auch in Syrien. Deshalb sei es entscheidend, dass die internationale Staatengemeinschaft im Fall Ukraine konsequent handle, glaubt Beeko. Nur so könne ein klares Zeichen an Russland, aber auch an andere Staaten wie Saudi-Arabien gesetzt werden, dass Kriegsverbrechen nicht ungeahndet bleiben und die Verantwortlichen damit rechnen müssen, irgendwann zur Rechenschaft gezogen zu werden.
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