"Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit!" Zehn Monate nach seiner legendären Antwort auf das damalige amerikanische Angebot unmittelbar nach dem russischen Überfall, ob er nicht lieber das Land mit US-Unterstützung verlassen wolle, kehrt der ukrainische Präsident nach Kiew mit beidem zurück: Mit mehr Munition und der Mitfahrgelegenheit. An Bord eines amerikanischen Regierungsflugzeugs ging es für ihn zurück nach Polen, und von dort in die ukrainische Hauptstadt.
Der Zeitpunkt des spektakulären Besuchs in Washington, der ersten Auslandsvisite Selenskyjs seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar, war von beiden Seiten sorgsam ausgewählt.
Der richtige Zeitpunkt
Bereits im Vorfeld der Visite hatte US-Präsident Biden zu erkennen gegeben, warum er jetzt, wenige Tage vor Weihnachten und dem Neuen Jahr, mit seiner Einladung an den ukrainischen Präsidenten ein unübersehbares politisches Zeichen setzen wollte: Am 11. Dezember habe Biden mit Selensykj über den Besuch telefonisch gesprochen, am 14. Dezember sei offiziell der Wunsch Bidens übermittelt worden, am 16. habe Selensyji zugesagt, teilte das Weiße Haus mit.
Bidens Motiv: Er habe den Eindruck, dass der Krieg in der Ukraine in "eine neue Phase" eintrete. Mit dem Wintereinbruch und den unverminderten russischen Angriffen auf die lebensnotwendige Infrastruktur sei nunmehr der richtige Zeitpunkt für einen persönlichen Appell Selenskyjs in Washington gekommen: an den US-Kongress und die amerikanische Öffentlichkeit für die Fortsetzung der politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und der übrigen Partnerländer.
Sorge um Zusammenhalt
Die offenkundige Sorge der US-Regierung: Unter dem globalen Eindruck massiv steigender Energiekosten und Lebensmittelpreise könnte der bisherige Zusammenhalt der Staatengemeinschaft gefährdet sein, der Ukraine in ihrem Überlebenskampf gegen die russische Kriegsmaschinerie unverändert zur Seite zu stehen.
Biden machte in Anwesenheit Selenskyjs ebenfalls mit Blick auf die Stimmung im eigenen Land deutlich: Es sei "wichtig für die amerikanische Bevölkerung und die Welt direkt von Ihnen, Herr Präsident, über den Kampf der Ukraine zu hören, und die Notwendigkeit, im Jahr 2023 weiterhin zusammenzustehen."
Sinkende Zustimmung zur Unterstützung
Für den ukrainischen Präsidenten konnte die mehrdimensionale Herausforderung in Washington nicht schwieriger sein: Er wusste, dass mit dem Zusammentritt des neu gewählten Repräsentantenhauses Anfang des Jahres die Republikaner die (wenn auch knappe) Mehrheit stellen werden und dass es in ihren Reihen nicht nur uneingeschränkte Befürworter des ukrainischen Verteidigungskampfs gegen die russischen Okkupanten gibt.
Sorgfältig dürften Selenskyjs Berater die demoskopischen Erhebungen unter den republikanischen Anhängern verfolgt haben: Danach sei deren Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine von März bis November von 80 auf rund 50 Prozent gesunken, wie die BBC berichtet.
Drahtseilakt für Selenskyj
Bereits während der sogenannten "Midterm-Wahlen" zum Kongress hatten einige republikanische Kandidaten Zweifel an den hohen Ausgaben für die Ukraine geäußert. Und es konnte nicht verwundern, dass Ex-Präsident Trump nach Selenskyjs Rede vor dem Kongress gehässig von sich gab: Der ukrainische Präsident sei eine "ungrateful, international welfare queen" – eine entwürdigende Polit-Phrase der Republikaner, die noch aus den 90ziger Jahren stammt und mit der sie damals gegen Finanzzuweisungen für sozialschwache alleinerziehende Frauen Stimmung gemacht hatten.
Selenskyj musste deshalb mit seinem Auftritt vor dem US-Kongress den politisch wie rhetorisch schwierigen Drahtseilakt absolvieren, einerseits für die bisherige Unterstützung Amerikas zu danken, andererseits zu begründen, warum es für die Zukunft der Ukraine, aber auch des Westens insgesamt dringend notwendig sei, die Unterstützung zu erhöhen und schlussendlich die skeptischen, neuen Republikaner im Kongress emotional zu erreichen.
Ziel: "Waffen, Waffen und noch mehr Waffen"
Aus dem Ziel der Reise nach Washington hatte der Beraterstab Selenskyjs zuvor keinen Hehl gemacht: "Waffen, Waffen und noch mehr Waffen." Es gehe nicht um eine "Wohltätigkeitsspende", formulierte der ukrainische Präsident im Kongress weitaus geschliffener, sondern um eine "Investition in die globale Sicherheit und Demokratie, die wir in höchst verantwortlicher Weise tätigen." Vor allem sein letzter Halbsatz richtete sich an diejenigen Republikaner, die sich gegen einen "Blankoscheck" für die Ukraine ausgesprochen hatten.
Gegenüber US-Präsident Biden ließ Selenskyj, trotz der äußerst angespannten Lage an der Front, ein wenig seinen Wortwitz aufleuchten. Ein Patriot-Luftabwehr-System, das Washington jetzt liefern werde, sei nicht genug. "Wir würden gerne mehr Patriots bekommen," sagte der Präsident und blickte zu einem lachenden Biden: "Tut mir leid, aber wir befinden uns im Krieg." Eloquent und stringent rückte Selenskyj den von Russland entfesselten Angriffskrieg in einen weltweiten Zusammenhang: Der Ausgang des Krieges werde das Schicksal der kommenden Generationen bestimmen. Denn der Kampf gehe nicht allein um das Leben, die Freiheit und Sicherheit der Ukraine oder jeder anderen Nation, die Russland zu erobern versucht."
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