Blick auf Rohre und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 und der Übernahmestation der Ferngasleitung.
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Blick auf Rohre und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 und der Übernahmestation der Ferngasleitung.

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Wartung von Nord Stream 1: Sorge vor Gas-Blockade

Die Bundesregierung, Unternehmen und Verbände blicken mit Sorge auf die ab 11. Juli geplante Wartung von Nord Stream 1. Es wird befürchtet, dass bald gar kein Gas mehr aus der Leitung kommt. Dies würde die Lage noch einmal deutlich verschärfen.

Gas ist bereits jetzt ein "knappes Gut" in Deutschland, bald könnte aber noch deutlich weniger zur Verfügung stehen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) befürchtet ein vollständiges Ausbleiben russischer Gaslieferungen durch die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream. Es drohe ab dem 11. Juli "eine Blockade von Nord Stream 1 insgesamt", sagte der Minister bei einem "Nachhaltigkeitsgipfel" der "Süddeutschen Zeitung". Der russische Gazprom-Konzern will die Doppelröhre vom 11. bis zum 21. Juli der alljährlichen Untersuchung unterziehen. In dieser Zeit strömt kein Gas durch die Pipeline nach Deutschland.

Aber: "Aus den Äußerungen Gazproms entnehmen wir, das im Abschluss der Gastransport wieder aufgenommen werden soll", heißt es vom Bundeswirtschaftsministerium gegenüber BR24. "Wir spekulieren hier nicht, aber wir beobachten die Lage täglich aufs Neue und sehr genau und stehen in ständigem Kontakt mit der Bundesnetzagentur und damit den Unternehmen der Gaswirtschaft."

Habeck befürchtet vorgeschobene Gründe für Gas-Blockade

Nach dem Muster, dass man gesehen habe, wäre es nicht "superüberraschend", wenn irgendein kleines Teil gefunden werde, befürchtet Habeck. "Und dann sagt man: Ja, das können wir halt nicht wieder anmachen, jetzt haben wir bei der Wartung irgendwas gefunden und das war's dann. Also insofern ist die Situation durchaus angespannt." In Bezug auf den kommenden Winter sagte der Minister: "Es kann wirklich problematisch werden." Die Gasversorgung über den Sommer sei aber gewährleistet. Gazprom lehnte einen Kommentar zu seinen Wartungsplänen ab.

Wartungsarbeiten immer im Sommer

Die Wartung an sich sei "erstmal nichts Ungewöhnliches und notwendig", um die hohen Sicherheitsstandards zu halten, sagte Timm Kehler, Vorstand des Branchenverbands "Zukunft Gas", zu BR24. Die Arbeiten fänden jedes Jahr im Juli statt, wenn im Gegensatz zum Winter weniger Gas verbraucht werde. "Möglich sind die Szenarien, dass die Mengen durch andere Pipelinerouten ausgeglichen werden oder schlichtweg ausbleiben", so Kehler. Dies hätte Folgen für den Winter: "Jeder fehlende Kubikmeter Gas führt auf dem aktuellen angespannten Gasmarkt zu einer Verzögerung der Füllung der Gasspeicher."

Normalerweise wird während der Wartung der Pipeline zusätzliches Gas über andere Pipelines aus Russland und auch aus anderen Ländern wie Norwegen transportiert, sodass es zu keiner Unterversorgung kommt. Ob dies derzeit möglich ist, ist unklar.

Branchenverband "Zukunft Gas": Russische Mengen nicht planbar

In den vergangenen Jahren verliefen die Wartungen der Pipeline immer problemlos. Seit der Inbetriebnahme von Nord Stream sei es zu keinen Verzögerungen gekommen. Kehler: "Allerdings sind die russischen Mengen zurzeit auch ohne die Wartung nicht planbar." Die Mengen der Nord Stream-Pipeline seien bereits um 60 Prozent reduziert, durch die Jamal-Pipeline in Polen fließe kein Gas und auch der Ukraine-Transit sei zurzeit nur zu zehn Prozent ausgelastet. "Die Gefahr, dass kein Gas mehr durch die Pipeline transportiert wird, besteht auch ohne die Wartung", meint Kehler.

Gefahr von Lieferstopp hoch

Auch Karen Pittel vom "ifo Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen" zeigt sich besorgt: "Die Gefahr, dass Russland die Wartung zum Anlass nimmt, die Erdgas-Lieferungen längerfristig einzustellen oder zumindest massiv zu reduzieren, halte ich für hoch", sagt die Volkswirtschaftsprofessorin BR24. Zwar sei die EU für Russland ein wichtiger und zuverlässiger Abnehmer, jedoch orientiere sich Moskau bereits um und erschließe neue Abnahmemärkte für seine fossilen Energien. Ein Wegfall der europäischen Einnahmen wäre "zwar schmerzhaft für Russland. Dies ist aber ein Preis, den es zu zahlen bereit sein könnte", so Pittel.

Schnelle Anbindung an LNG-Terminals wichtig

Eine mögliche verlängerte Wartung oder gar das Ausbleiben weiterer Lieferungen hätte einschneidende Konsequenzen für Deutschland. "Durch geringere Einspeicherungen erhöht sich die Gefahr einer Versorgungslücke im kommenden Winter", betont Pittel. Die rechtzeitige Anbindung der schwimmenden LNG-Terminals und Anreize zum Gassparen werden ihrer Ansicht nach dadurch immens wichtig. "Sollten auch im kommenden Jahr die Lieferungen aus Russland ausfallen oder stark verringert sein, kann dies auch das Auffüllen der Speicher im Sommer 2023 und die Versorgung im Winter 2024 beinträchtigen."

Auch Timm Kehler von Branchenverband "Zukunft Gas" betont: Ein Stopp der Gaslieferungen durch die Nord Stream-Pipeline nach der Wartung führe unmittelbar zu einem Problem der Einspeicherung von Gas. Wie viel Gas Deutschland dann noch zur Verfügung stehe, hänge davon ab, ob Deutschland weitere Importkapazitäten durch eigene LNG-Terminals zur Verfügung stünden und wie viel Gas Deutschland ins europäische Ausland exportiert. Auch Kehler fordert deshalb, dass beim "Aufbau der LNG-Infrastruktur Tempo gemacht" werde. Die aktuellen Füllstände der Speicher in Deutschland liegen laut Bundesnetzagentur bei rund 61 Prozent.

Internationale Energieagentur: Auf alle Möglichkeiten vorbereiten

Kürzlich hatte bereits der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, auf die Engpässe ab Juli verwiesen. "Wir wissen, dass am 11. Juli ein Wartungsfenster droht", sagte er. Dann werde die Pipeline Nord Stream 1 komplett heruntergefahren "und wir wissen nicht, was danach passiert". Der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, warnte Europa, sich auf alle Möglichkeiten vorzubereiten. Der russische Regierungssprecher Dimitry Peskow betonte dagegen: "Unsere deutschen Vertragspartner kennen die technischen Wartungszyklen von Pipelines sehr gut." Jahrelang habe das problemlos funktioniert. "Es ist verwunderlich, dass hier überall die Politik mit reingezogen wird."

Russland hat bereits jetzt die Kapazität der Pipeline verringert und die Schuld daran dem Umstand gegeben, dass eine in Kanada überholte Gasturbine von Siemens Energy wegen der Russland-Sanktionen nicht an die Ostsee-Pipeline ausgeliefert werden kann. Habeck hat dies als Vorwand zurückgewiesen. Laut Bundesnetzagentur liegen die Gasflüsse aus der Nord Stream 1 derzeit bei etwa 40 Prozent der Maximalleistung. "Sollten die russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 weiterhin auf diesem niedrigen Niveau verharren, ist ein Speicherstand von 90 Prozent bis November kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar", heißt es.

Gas-Importeur Uniper bittet den Staat um Hilfe

Die Drosselung der russischen Gaslieferungen bringt derweil den Energieversorger Uniper in Bedrängnis. Die Bundesregierung befindet sich laut Wirtschaftsministerium mit dem Unternehmen in Gesprächen über Stabilisierungsmaßnahmen wie Garantie- und Sicherheitsleistungen oder auch die Erhöhung der aktuellen Kreditfazilität. Im ersten Quartal waren wegen des Russland-Engagements Milliardenverluste bei dem Düsseldorfer Unternehmen aufgelaufen. Seit Mitte Juni erhält Uniper, das mehrheitlich dem finnischen Versorger Fortum gehört, nach eigenen Angaben nur noch 40 Prozent der vertraglich zugesicherten Gasmengen von Gazprom und muss teuer Ersatzmengen beschaffen.

Ein Logo steht im Foyer der Hauptverwaltung des Energieversorgungsunternehmens Uniper in Düsseldorf.
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Hauptverwaltung des Energieversorgungsunternehmens Uniper in Düsseldorf

vbw: Bei Gas-Lieferstopp drohen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit

Ein plötzlicher Gas-Lieferstopp durch Russland würde in vielen Bereichen zu massiven Problemen führen. Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft vbw geht davon aus, dass ein abrupter Lieferstopp zu schweren Schäden in der gesamten Wertschöpfungskette führen würde. Es drohten flächendeckend Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und ein dauerhafter Verlust unserer industriellen Strukturen, ergab eine vor kurzem veröffentlichte Studie im Auftrag der vbw. Der Bayerische Bauernverband hatte am Mittwoch gefordert, die Gasversorgung für die Landwirtschaft als systemrelevant einzustufen. Eine unterbrechungsfreie Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln sei essenziell, sagte BBV-Bezirkspräsident Herrmann Greif und verwies auf die Zahl von einer Milliarde Menschen, die aktuell hungerten.

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Deutschlands Gasverbrauch 2021

Mieter vor Verlust ihrer Wohnung schützen

Der Deutsche Mieterbund (DMB) forderte im Zuge der Ausrufung der Alarmstufe des Gas-Notfallplans umfangreiche Maßnahmen, um Mieterinnen und Mieter vor dem Verlust ihrer Wohnungen zu schützen. "Wir stehen kurz vor einer Zäsur, schon im Juli könnten über den Preisanpassungsmechanismus die Gasrechnungen von mehr als 20 Millionen Mietern von jetzt auf gleich explodieren und die Bundesregierung hat bisher keine nennenswerte Maßnahme erlassen, um Mieterinnen und Mieter vor dem Verlust ihrer Wohnung zu schützen", kritisiert die Bundesdirektorin des Deutschen Mieterbundes, Melanie Weber-Moritz.

Gefordert werden beispielsweise Sofortmaßnahmen wie ein Kündigungsmoratorium. Zudem sollten Energiesperren, also zum Beispiel das Abschalten von Gas ausgesetzt werden, wenn Mieter ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Auch Vermieter müssten viel stärker als bisher in die Pflicht genommen werden, verlangt Weber-Moritz. "Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland als Antwort auf die Gaspreisexplosion nur von kalten Duschen und heruntergedrehten Heizungen der Mieterinnen und Mieter sprechen."

Mit Material von reuters, dpa, afp

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