EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat bei ihrem zweiten Besuch in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein Gespräch über die EU-Beitrittsantrag der Ukraine geführt. Ziel des Gesprächs war eine "Bestandsaufnahme der gemeinsamen Arbeit [...], die mit Blick auf den Wiederaufbau und die Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg nötig sind", so hatte es von der Leyen bei ihrer Ankunft in Kiew formuliert.
Von der Leyen: "Ukraine braucht Reformen"
Nach dem Treffen mit Selenskyj sagte sie, die Ukraine habe "viel für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit getan, aber es müssen noch Reformen vorgenommen werden, um beispielsweise die Korruption zu bekämpfen oder diese gut funktionierende Verwaltung zu modernisieren, um Investoren anzuziehen".
Bei ihrer ersten Visite in Kiew im April hatte die Kommissionschefin an Präsident Selenskyj einen Fragenkatalog übergeben, der für die Bewertung ihrer Behörde hinsichtlich der ukrainischen EU-Ambitionen maßgeblich sein sollte. "Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr von Europa träumt", sagte sie damals. Ihre Botschaft laute, "dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört".
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Details des Aufnahmegesuchs im Mittelpunkt
Die Kommissionschefin will bei ihrem jetzigen Besuch auch den ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal treffen, um noch offene Punkte des Aufnahmegesuchs erörtern. Zudem sollte es um die langfristige Hilfe der EU bei der Beseitigung der Kriegsschäden gehen. "Wir werden eine Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg vornehmen", sagte von der Leyen zu ihrer Ankunft in Kiew: "Dies wird in unsere Bewertung einfließen, die wir demnächst vorlegen werden."
EU-Kommission nimmt nächste Woche Stellung
Die Ukraine hatte Anfang März, wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf das Land, einen EU-Beitrittsantrag gestellt. Mehrere EU-Staaten unterstützen das ukrainische Beitrittsersuchen, schließlich beauftragten die Mitgliedsländer die EU-Kommission, sich mit der Frage zu befassen und eine Empfehlung abzugeben.
Das wird die EU-Kommission voraussichtlich am kommenden Freitag tun und ihre Einschätzung dazu veröffentlichen, ob der Ukraine der Status als Kandidat für einen EU-Beitritt gewährt werden sollte. Geknüpft an eine solche Empfehlung wären wohl Reformzusagen in Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit oder dem Kampf gegen Korruption.
Haltung der Mitgliedsstaaten ist vor dem Gipfel geteilt
Die letzte Entscheidung darüber, ob die Ukraine den Kandidatenstatus bekommt, liegt bei den EU-Staaten und muss einstimmig getroffen werden. Der EU-Gipfel am 23./24. Juni soll sich damit befassen - die Ansichten der Länder gehen jedoch teils weit auseinander, obwohl die Entscheidung über den Kandidatenstatus die Aufnahmeentscheidung noch nicht vorwegnimmt und auch nicht mit einem Zeitrahmen verbunden ist. So ist die Türkei beispielsweise bereits seit 1999 EU-Beitrittskandidat.
"Wir haben kein Recht, diesen Augenblick zu verpassen"
Innerhalb der EU birgt diese Frage aber dennoch schon jetzt erheblichen Sprengstoff - für die EU-Kommission ist es eine Herausforderung, bei ihrer Empfehlung die Interessen aller Länder zu berücksichtigen. Staaten wie Estland, Litauen und Lettland, aber auch Italien oder Irland machen sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen.
Das sei "eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen", sagte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda am Dienstag nach Gesprächen mit Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut."
Der Kanzler zeigt sich zurückhaltend
Offene Ablehnung gegen einen solchen Weg gab es zuletzt wenig, doch sind einige Regierungen zumindest skeptisch. Dazu gehören etwa Frankreich und die Niederlande.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich bislang zurückhaltend zu dem Thema. Er betonte, dass er keine Sonderregeln für einen beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine akzeptieren wolle. Dabei verwies er auch darauf, dass dies nicht fair gegenüber den sechs Ländern des westlichen Balkan wäre, die ebenfalls auf einen Beitritt zur EU hoffen.
Die Unionsfraktion bereitet derzeit laut einem Bericht der "Welt" einen Bundestagsantrag vor, mit dem die Bundesregierung aufgefordert werden soll, die Einräumung eines EU-Kandidatenstatus für die Ukraine sowie Georgien und Moldau zu unterstützen.
"Wir brauchen diesen Beitrittskandidatenstatus"
Die Erwartungen der Ukraine an eine Annäherung an die EU sind riesig. Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk machte kürzlich im Europaparlament deutlich, dass es dabei auch um die Moral des ukrainischen Volkes im Krieg gegen Russland gehe. "Wir brauchen diesen Ansporn, wir brauchen diesen Beitrittskandidatenstatus. Das muss das ukrainische Volk aus Europa hören" sagte er.
Präsident Selenskyj macht immer wieder Druck und sagte jüngst, die EU könne einen historischen Schritt unternehmen und beweisen, dass Worte über die Zugehörigkeit des ukrainischen Volkes zur europäischen Familie nicht bloß leere Worte seien.
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