"Verzerrtes Bild": Lauterbach wegen Corona-Daten in der Kritik
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Archivbild: Ein Arzt verlässt eine Covid-19-Station im Klinikum Stuttgart

    "Verzerrtes Bild": Lauterbach wegen Corona-Daten in der Kritik

    Vor zwei Monaten versprach Gesundheitsminister Lauterbach präzisere Daten zur Belastung der Kliniken mit Covid-Patienten - sie fehlen noch immer. Dabei wären verlässliche Zahlen wichtiger denn je zur Beurteilung der Lage, mahnen Gesundheitspolitiker.

    Amper-Klinikum Dachau: 44 Patienten mit Corona in stationärer Behandlung, 25 von ihnen ohne "symptomatische Lungen-/Bronchialerkrankung" (Stand: 2. April). Frankenwaldklinik Kronach: 15 "liegende Fälle" mit Covid, zehn von ihnen ohne Corona-Symptome. Ganz anders im Helios Klinikum München West: Dort haben zwei Drittel der 38 Corona-Patienten Lungen- oder Bronchialbeschwerden.

    Die private Helios-Kliniken-Gruppe macht es vor: Seit kurzem schlüsselt sie für jedes ihrer Häuser auf, ob Corona-positive Patienten wegen Covid behandelt werden oder wegen anderer Erkrankungen. Diese Zahlen dienten "ausdrücklich nicht zur verantwortungslosen Verharmlosung der Pandemie", versichert der Klinikbetreiber, vielmehr wolle man einen Beitrag zur Transparenz leisten. Bundesweit hatten demnach zuletzt rund 60 Prozent der 1.390 Corona-positiven Helios-Patienten keine Covid-Symptome.

    Der Unions-Gesundheitsexperte im Bundestag, Tino Sorge, spricht auf BR24-Anfrage von "bemerkenswerten" Ergebnissen: "Eine große Zahl von Patienten ist nicht wegen Corona im Krankenhaus. Stattdessen wird Corona oft nur zufällig entdeckt, ist eine Nebendiagnose und verläuft mild bis asymptomatisch." Für alle Krankenhäuser in Bayern oder Deutschland fehlt eine solche Differenzierung nach wie vor. Tino Sorge hält diese "Daten-Unsicherheit" für nicht akzeptabel.

    Bremen hat genauere Daten als das RKI

    Auf Ebene der Bundesländer veröffentlicht Bremen in Eigenregie differenzierte Daten zur Lage in den Kliniken. Der Stadtstaat weist zwei "Hospitalisierungsinzidenzen" (Einweisungen mit Corona in Kliniken pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen) aus: Demnach kamen zuletzt mehr als dreimal so viele Patienten "mit" Corona in stationäre Behandlung wie "wegen" Corona.

    Die Bremer Daten haben noch einen weiteren Vorteil gegenüber den Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI): "Wir verwenden das konkrete Datum der Einlieferung ins Krankenhaus als maßgeblichen Zeitpunkt für die Berechnung der täglichen Inzidenz", betont die Hansestadt. Das RKI dagegen ordnet die gemeldeten hospitalisierten Personen dem Meldedatum der Infektion zu, welches zum Teil mehrere Tage zurückliegen kann. "Es kann dann zu Nachmeldungen kommen, und somit sind die täglichen Zahlen verzerrt", so der Stadtstaat. Daher seien die Bremer Zahlen genauer als die RKI-Daten.

  • Zum Artikel "Hospitalisierungen: Corona-Kennzahl systematisch zu niedrig"
  • Welchen Unterschied der Meldeverzug tatsächlich macht, zeigt die folgende Grafik am Beispiel Bayern: Neben der täglich vermeldeten Hospitalisierungsinzidenz ist auch der Wert mit Nachmeldungen und eine mit einem statistischen Verfahren vom RKI geschätzte Variante zu sehen.

    Union: "Schlechte Datenlage"

    Wie schon so oft während der Pandemie zeigt sich, dass die Daten, mit denen in Deutschland Corona-Politik gemacht wird, mangelhaft sind. Obwohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Ende Januar angekündigt hatte, dass schon "in wenigen Wochen" tagesaktuelle und differenziertere Daten zu Covid-19-Patienten in Klinken zur Verfügung stehen würden, hat sich an der RKI-Erhebung der Hospitalisierungsinzidenz nichts geändert: Meldeverzug und Art der Berechnung führen zu einer konstanten Unterschätzung. Gibt es jedoch sehr viele Menschen, die zwar positiv getestet sind, aber eigentlich wegen einer anderen Diagnose eingeliefert werden, wird die Anzahl wiederum überschätzt.

    "Der Bundesgesundheitsminister muss die Datenerfassung in den Kliniken schnellstens verbessern", fordert Tino Sorge. "Die schlechte Datenlage bremst das Pandemiemanagement immer wieder aus." In Bayern mahnt unter anderen der FDP-Gesundheitsexperte im Landtag, Dominik Spitzer, eine differenzierte Hospitalisierungsinzidenz der Krankenhäuser an.

    Holetschek verlangt konkrete Schwellenwerte

    Die Lage in den Kliniken spielt im geänderten Infektionsschutzgesetz eine wichtige Rolle. So dürfen Bundesländer für bestimmte Regionen nur dann strengere Maßnahmen ergreifen, wenn dort eine neue, deutlich "pathogenere" Corona-Variante auftritt oder "eine Überlastung der Krankenhauskapazitäten" droht. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kritisiert seit Tagen, dies sei viel zu schwammig formuliert, da keine Parameter und Schwellenwerte definiert würden. Einen Vorschlag, welche Werte das sein könnten, machte Holetschek zuletzt nicht. Von der im Spätsommer eingeführten bayerischen Krankenhausampel hat sich die Staatsregierung längst selbst verabschiedet.

    CDU-Politiker Sorge hält die Hospitalisierungsinzidenz für einen wichtigen Indikator – "aber nur, wenn auch trennscharf erfasst wird, wer wirklich wegen Corona im Krankenhaus ist". Es könne nicht sein, "dass scharfe Maßnahmen von unpräzisen Daten abhängig gemacht werden". Lauterbach kündige seit zwei Monaten genauere Werte an, "geschehen ist seither viel zu wenig".

    Ministerium arbeitet an neuen Meldeverfahren

    Das Bundesgesundheitsministerium teilt auf BR24-Anfrage mit: Seit 16. März hätten Krankenhäuser die Möglichkeit, Hospitalisierungen mit Covid-19 über einen "Komfortclient", also eine Art Meldeportal, direkt in das Meldesystem DEMIS einzuspeisen - anstatt sie wie bisher über Formulare an das zuständige Gesundheitsamt zu schicken. "Damit kann der Arbeitsaufwand für die Krankenhäuser und der Dokumentationsverzug reduziert werden." Allerdings räumt ein Ministeriumssprecher ein, dass bisher noch kein Krankenhaus von dieser Meldemöglichkeit Gebrauch gemacht habe.

    Zudem werde aktuell vorbereitet, dass die Daten künftig über eine Schnittstelle direkt aus den Systemen der Krankenhäuser an DEMIS übertragen werden können. Damit würde ein weiterer aufwändiger Zwischenschritt in der Meldekette wegfallen. "Sobald dem RKI die Daten vorliegen, wird es diese umgehend auf seiner Homepage zur Verfügung stellen", versichert der Sprecher. Wann dies sein wird, bleibt offen. Unklar ist zudem, ob damit auch der Meldeverzug behoben wird. Unbeantwortet lässt das Ministerium auch, ob durch die neuen Meldewege zwischen einer Hospitalisierung "wegen" und "mit" Covid-19 getrennt werden kann.

    Lauterbach: Ob "mit" oder "wegen" Corona ist egal

    Lauterbach betont immer wieder, es sei aus seiner Sicht letztlich unerheblich, ob ein Patient wegen oder mit Corona im Krankenhaus liege. Zum einen sei der Betreuungsaufwand wegen der erforderlichen Isolierungsmaßnahmen in beiden Fällen gleich groß. Zum anderen hätten viele Patienten mit einer anderen Erstdiagnose durch die Nebendiagnose Corona eine viel schlechtere Prognose.

    Tino Sorge sieht das anders: "Im Hinblick auf die Gefahr, die vom Virus ausgeht, ist das ein gravierender Unterschied. Sauber erfasst, könnte man aus der Vielzahl von Nebendiagnosen ableiten, dass Corona deutlich harmloser ist." Seiner Meinung nach ist es daher "grundfalsch", nicht zwischen Corona als Haupt- oder Nebendiagnose zu unterscheiden. "Wer hier nicht differenziert, fördert ein übertriebenes und verzerrtes Bild der Pathogenität. Bei Millionen milden Omikron-Verläufen ist das fatal."

    Nicht "alles in einen Topf schmeißen"

    Auch FDP-Politiker Spitzer ist der Meinung, es sei definitiv falsch, "alles in einen Topf zu schmeißen". Spitzer verlangt, dass insbesondere die Daten zu Corona-Intensivpatienten genauer differenziert werden, damit sich die Gefährlichkeit des Virus besser bewerten lasse. "Diese Zahlen zu generieren, ist das absolute Minimum", betont er.

    Das bayerische Gesundheitsministerium sieht keinen Handlungsbedarf. "Eine zusätzliche Meldeverpflichtung für die hoch belasteten Krankenhäuser zu schaffen, wäre der aktuellen Lage nicht angemessen", teilt ein Ministeriumssprecher auf BR24-Anfrage mit. Zumal nicht immer trennscharf unterschieden werden könne, ob ein Patient wegen oder mit einer Corona-Erkrankung in Behandlung sei. Die Bremer Methode lasse sich auf ein Flächenland wie Bayern nicht übertragen.

    Personalmangel in Kliniken: Lage angespannt

    Sowohl das bayerische als auch das Bundesgesundheitsministerium betonen: Trotz möglicher Unter- und Übererfassung und zeitlicher Verzögerung sei die Hospitalisierungsinzidenz wichtig, um das Auftreten der schweren Covid-19-Erkrankungen einzuschätzen. Die Rate werde jedoch nie allein zur Bewertung des aktuellen Geschehens herangezogen, sondern immer im Zusammenspiel mit anderen Kennzahlen.

    Aktuell ist es in erster Linie der Personalmangel, der vielen Krankenhäusern in Bayern zu schaffen macht - viele Ärzte und Pfleger sind krank oder in Quarantäne und fallen daher aus. Der Geschäftsführer der bayrischen Krankenhausgesellschaft (BKG), Roland Engehausen, spricht von einer sehr angespannten Lage.

    Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte schon Anfang der Woche beklagt, das Hauptproblem in den Krankenhäusern seien gegenwärtig die Quarantäne-Regeln für die Mitarbeiter. Der Bund müsse die Quarantäne-Vorgaben anpassen - "insbesondere für viele, die symptomlos sind und deswegen auch weniger ansteckend sind". Mittlerweile haben Bundesgesundheitsministerium und RKI den Ländern eine deutliche Lockerung der Quarantäne-Regeln vorgeschlagen. Wann sie auch bessere Daten zur Lage in den Kliniken liefern, bleibt abzuwarten.

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