Erik Mose, Vorsitzender der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission zur Ukraine, spricht während einer Pressekonferenz am europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen.
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UN: Verschleppung von Kindern nach Russland ist Kriegsverbrechen

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UN: Verschleppung von Kindern nach Russland ist Kriegsverbrechen

Ermittler der Vereinten Nationen haben zahlreiche Kriegsverbrechen Russlands bei dem Überfall auf die Ukraine festgestellt. Dazu gehören Folter, Vergewaltigung, Angriffe auf Zivilisten und die Infrastruktur und die Verschleppung von Kindern.

Russland hat bei seinem Krieg gegen die Ukraine zahlreiche Kriegsverbrechen begangen. Dazu gehört auch die Verschleppung vieler tausend Kinder nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete. Das hat ein Ermittlerteam der Vereinten Nationen festgestellt. Die Deportation von Kindern im großen Stil "verstößt gegen internationales humanitäres Recht und kommt einem Kriegsverbrechen gleich", heißt es in einem in Genf vorgelegten Bericht. Die Ermittler haben dafür ein Jahr lang im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats recherchiert.

Große Dunkelziffer bei der Zahl der verschleppten ukrainischen Kinder

Konkrete Zahlen nennen die Ermittler nicht, schreiben aber, dass es auch deutlich mehr verschleppte Kinder geben könnte, als die 16.000 bislang von der ukrainischen Regierung angegebenen. Hinweise gebe es beispielsweise, so die Ermittler auch darauf, dass russische Behörden Kinder aus der Ukraine in Kinderheimen oder Pflegefamilien unterbringen und zu russischen Staatsbürgern erklären. Das aber verbietet das humanitäre Völkerrecht. Kinder dürfen demnach nicht gegen den Willen ihrer Eltern oder der Erziehungsberechtigten evakuiert werden. Unter anderem, so der Bericht, habe der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass unterzeichnet, wonach Kinder unter bestimmten Bedingen in vereinfachtem Verfahren russische Staatsbürger werden können.

Die Experten untersuchten nach eigenen Angaben detailliert einen Fall, in dem 164 Kinder und Jugendliche zwischen vier und 18 Jahren aus den ukrainischen Regionen Donezk, Charkiw und Cherson deportiert wurden. Den Eltern und den Kindern selbst sei von den russischen Sozialbehörden mitgeteilt worden, dass die Kinder in Pflegefamilien kommen oder adoptiert werden sollten. Die Kinder hätten Furcht gehabt, dauerhaft von ihren Familien getrennt zu werden.

Russische Angreifer beginnen viele weitere Kriegsverbrechen

Der Bericht beleuchtet aber auch zahlreiche andere Kriegsverbrechen der russischen Angreifer, darunter zahlreiche Angriffe auf Zivilisten und die zivile Infrastruktur, rechtswidrige Gefangenschaft, Folter und Vergewaltigung.

"Viele der vorsätzlichen Tötungen, rechtswidrigen Einsperrungen, Vergewaltigungen und sexuellen Gewalttaten wurden im Rahmen von Hausdurchsuchungen begangen, die darauf abzielten, Anhänger der ukrainischen Streitkräfte ausfindig zu machen oder Waffen zu finden", stellt der Bericht fest. Die willkürlich verhafteten Menschen seien von den russischen Streitkräften oft in überfüllten Zellen unter schlimmsten Umständen gefangen gehalten worden.

Folter als "weit verbreitetes Muster"

Das Ermittlerteam hob dabei ein "weit verbreitetes Muster von durch russische Behörden begangene Folter und inhumane Behandlung" in den russisch kontrollierten Gebieten hervor. Dazu gehöre sexuelle Gewalt, Vergewaltigung, das Aufhängen von Gefangenen an der Decke mit gefesselten Händen und das Abschnüren der Atmung durch eine Plastiktüte. Der Bericht gibt an, dass "russische Behörden möglicherweise Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben".

"In einem Fall starben zehn ältere Menschen an den Folgen der unmenschlichen Bedingungen in einem Schulkeller, während die anderen Inhaftierten, darunter auch Kinder, denselben Raum mit den Leichen der Verstorbenen teilen mussten", heißt es weiter. Bei Vergewaltigungen seien Familienmitglieder, darunter auch Kinder, gezwungen worden, dem Verbrechen zuzusehen.

Der Vorwurf, dass russische Truppen und Söldner Kriegsverbrechen begangen habe, könnte aber noch erweitert werden, heißt es. Die Angriffswellen der russischen Streitkräfte auf die Energieinfrastruktur der Ukraine und der Einsatz von Folter könnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Einen Genozid sieht die Kommission allerdings nicht, so der norwegische Vorsitzende der Kommission, Erik Møse, fügte aber hinzu, dass "einige Aspekte" festgestellt worden seien, die "Fragen hinsichtlich dieses Verbrechens aufwerfen könnten".

Liste von Kriegsverbrechern soll UN-Kommissar übergeben werden

Die Kommission dringt jetzt auf die Verfolgung der Straftäter. Eine Liste der mutmaßlichen Verantwortlichen sei erstellt und beschränke sich nicht nur auf das Militär, sagte Møse. Das Mandat der Kommission umfasse vielmehr alle Ebenen. "Wir haben Fortschritte bei der Identifizierung von Personen und zum Beispiel Einheiten gemacht", sagte Kommissionsmitglied Pablo de Greiff. Diese Liste werde dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte übergeben und sei nicht Teil des Berichts, hieß es.

Die deutsche Botschafterin in Genf, Katharina Stasch, sprach nach der Veröffentlichung des Berichts von abscheulichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Es sei wichtig, dass diese nun klar dokumentiert seien. "Wir werden", sagte Stasch, "die Verbrechen aufklären und die Täter zur Rechenschaft ziehen." Schon im Februar hatte Außenministerin Annalena Baerbock die Verschleppung von Kindern verurteilt.

Auch Ukraine beging offenbar Kriegsverbrechen

Vorwürfe erhebt die Kommission auch gegenüber der Ukraine. Allerdings in weitaus geringerem Umfang. Konkret heißt es hier, es habe willkürliche Angriffe gegeben und zwei russische Kriegsgefangene sollen gefoltert worden sein.

Umfangreiche Untersuchungen für den UN-Bericht

Für die Ermittlungen reiste die Kommission nach eigenen Angaben acht Mal in die Ukraine und besuchte 56 Städte und Siedlungen. Außerdem seien Gräber, Haft- und Folterstätten inspiziert sowie Fotos und Satellitenbilder ausgewertet worden. Insgesamt seien 600 Betroffene befragt worden. Laut UN-Zahlen wurden seit Beginn des Krieges mehr als 8.000 Zivilisten getötet und mehr als 13.000 verletzt. Diese Zahlen spiegelten aber wohl nur einen Teil der wirklichen Situation wider, hieß es.

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