Die Lage rund um das russisch besetzte Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine bleibt weiter angespannt: In der nahe gelegenen Stadt Enerhodar schlugen am Sonntag erneut Artilleriegeschosse ein. Das teilten russische wie ukrainische Quellen mit. Beide Seiten machten jeweils die andere für den Beschuss verantwortlich. Übereinstimmend wurde berichtet, dass ein Zivilist getötet worden sei.
Der Tote sei Mitarbeiter im AKW gewesen, berichtete der ukrainische Kraftwerksbetreiber Enerhoatom später auf Telegram. Nach einigen Berichten hatte er seinen Hund ausgeführt. Zwei weitere Bewohner der Stadt seien verletzt worden, hieß es bei Enerhoatom. Etwa sechs Geschosse hätten nachmittags ein Wohnviertel getroffen.
Der Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, sagte der Nachrichtenagentur AFP, das Risiko einer atomaren Katastrophe "wächst jeden Tag". Was dort passiere, sei "regelrechter nuklearer Terrorismus." Orlow warnte: "Das kann jederzeit unvorhergesehen enden." Die Lage sei riskant und es gebe keinen Deeskalationsprozess.
Russischer Diplomat sieht UN in Pflicht
Auch die internationale Gemeinschaft ist besorgt wegen der Sicherheitslage im größten Kernkraftwerk Europas, das seit März von russischen Truppen besetzt ist. Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) sollen das AKW inspizieren. Die Vereinten Nationen, Russland und die Ukraine können sich aber nicht über die Modalitäten des Besuchs einigen.
Moskau sieht die Uno am Zug: Es sei Aufgabe des UN-Sekretariats, "grünes Licht für einen Besuch des AKW von Experten und Expertinnen der Internationalen Atomenergie-Organisation zu geben", sagte der russische Diplomat Michail Uljanow der russischen staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Die IAEA könne sich dann selbst um die "Modalitäten der Reise in die Unruheregion" kümmern.
Dem Vernehmen nach hatten die UN eine Reise von IAEA-Chef Rafael Grossi nicht nur aus Sicherheitsgründen bisher nicht erlaubt, sondern auch weil es Streit um den Reiseweg gibt. Grossi könnte zum Ärger der Ukraine etwa unter russischem Schutz über die Schwarzmeer-Halbinsel Krim anreisen.
Man habe sehr eng mit der IAEA zusammengearbeitet und den Besuch vorbereitet, sagte Uljanow. Aber: "Das UN-Sekretariat hat ihn im letzten Moment blockiert, ohne die Gründe dafür zu erklären".
42 Staaten fordern Abzug russischer Truppen aus AKW
Die Ukraine und Russland werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, Europas größtes Kernkraftwerk zu beschießen und damit eine atomare Katastrophe heraufzubeschwören.
Den sofortigen Abzug russischer Truppen aus dem besetzten Atomkraftwerk forderten unterdessen 42 Staaten und die EU in einer Erklärung in Wien. "Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel", hieß es in der Erklärung. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) verpflichtet hätten.
Die Kontrolle über das AKW müsse den befugten ukrainischen Behörden übergeben werden. Dann könnten Experten der IAEA ihre Aufsichtspflicht über die Arbeit der Ukrainer wahrnehmen. Russland müsse vollständig aus der Ukraine abziehen und den "durch nichts provozierten oder gerechtfertigten Angriffskrieg" gegen das Nachbarland beenden.
Die Forderung wurde im Namen der EU und aller ihrer Mitgliedsländer erhoben. Zudem unterzeichneten die USA, Großbritannien, Norwegen, Australien, Japan, Neuseeland und andere Länder.
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
Kiew will Sanktionen gegen russische Atomindustrie
Angesichts der Kämpfe um das AKW Saporischschja fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Westen zu Sanktionen gegen Russlands Atomindustrie auf. Die Strafmaßnahmen müssten die Nuklearindustrie des Aggressorstaates treffen, sagte Selenskyj in einer am Samstagabend verbreiteten Videoansprache. Die Atommacht Russland baut oder betreibt in mehreren Ländern Kernkraftwerke und lagert auch radioaktiven Müll bei sich. Russland benutze das AKW im Süden der Ukraine, um die ukrainische Führung und die ganze Welt zu erpressen, sagte Selenskyj.
Ukraine sieht Erfolge in Südukraine
Laut Selenskyj ist die Lage im Osten der Ukraine weiter schwierig, aber ohne große Veränderungen. Besonders die Region Charkiw werde immer wieder angegriffen, die Verteidigung aber halte. Russland habe im Donbass indes "kolossale Ressourcen" an Artillerie, Personal und Ausrüstung aufgefahren. Im Süden gelingt es laut Selenskyj dem ukrainischen Militär aber immer wieder, den "russischen Okkupanten" Schläge zu versetzen. So sei die Autobrücke des Staudamms Nowa Kachowka im Gebiet Cherson nach mehreren Angriffen nicht mehr befahrbar. Obendrein sei nun die letzte der drei einzigen Flussquerungen über den Dnipro zerstört worden. Damit soll der Nachschub für Teile der russischen Armee verhindert werden.
Russland beschießt Dutzende Ortschaften
Russland hat bei neuen Raketen- und Artillerieangriffen im Osten der Ukraine nach eigenen Angaben Ziele in Dutzenden Ortschaften beschossen. Die Attacken konzentrierten sich auf die Region Donezk, im benachbarten Gebiet Charkiw sei die Ortschaft Udy eingenommen worden, teilte das russische Verteidigungsministerium am Sonntag in Moskau mit.
Als gute Nachricht bezeichnete Selenskyj den Transport von ukrainischem Getreide und Lebensmitteln über die Häfen im Schwarzen Meer. Inzwischen seien 16 Schiffe mit Mais, Weizen, Soja, Sonnenblumenöl und anderen Produkten ausgelaufen, um die Lage auf dem globalen Lebensmittelmarkt zu entspannen. Die Einnahmen aus dem Verkauf kämen dem Staat und den Landwirten zugute, die nun die neue Saat ausbringen könnten, sagte Selenskyj. "Das ist ein wichtiges Element auf dem Weg zum Sieg", sagte er.
Mit Material von dpa und AFP.
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