Archivbild: Eine Panzerhaubitze 2000
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Archivbild: Eine Panzerhaubitze 2000

    Ukraine-Krieg: Ein halbes Jahr Zeitenwende

    Es war ein langer Weg von 5.000 Helmen bis zur Lieferung der Panzerhaubitze 2000. Der russische Angriffskrieg hat die deutsche Russland-Politik vom Kopf auf die Füße gestellt. Kritikern geht die Unterstützung für Kiew nicht weit genug. Eine Analyse.

    Es wird keiner Historiker bedürfen, um die europäische, die Weltgeschichte einzuteilen in eine Zeitrechnung ab dem 24. Februar 2022 und in eine längst vergangen scheinende Epoche davor: "Diese Welt wird es so nicht mehr geben", befand Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Rückblick auf die Zeit vor dem Angriffskrieg. Und auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dürfte bereits am Morgen des 24. Februar bewusst gewesen sein, was der Einmarsch des russischen Präsidenten Wladimir Putins in der Ukraine für Deutschland bedeutete: War er doch brutaler Beleg dafür, dass die Russland-Politik Berlins der vergangenen Jahre in Trümmern lag.

    Scholz spricht von "Zeitenwende"

    "Die volle Solidarität Deutschlands in dieser schweren Stunde", sichert der Kanzler der Ukraine noch in den frühen Morgenstunden des 24. Februars zu. Um dann drei Tage später im Bundestag den viel zitierten Satz zu sagen: "Wir erleben eine Zeitenwende". Scholz verspricht der Bundeswehr 100 Milliarden Euro, die Nato verlegt ihre schnelle Eingreiftruppe, die EU verhängt die schärfsten Sanktionen gegen Moskau jemals.

    Die deutsche Zivilgesellschaft zeigt Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, heißt bis heute knapp 968.000 registrierte Kriegsflüchtlinge willkommen. Doch eines kann der "Zeitenwende"-Kanzler nicht abwenden: Dass ihn das Thema Waffenlieferungen immer wieder heimsucht - bis zum heutigen Tag: "Deutschland liefert sehr, sehr viele Waffen", beteuerte Scholz am Wochenende beim Tag der offenen Tür im Kanzleramt. "Mittlerweile sind wir dabei, mit die modernsten und effizientesten Geräte zu liefern, die in ganz konkret vor Ort im Osten der Ukraine eine große Rolle spielen."

    Neue Waffenlieferungen angekündigt

    Doch auch die Panzerhaubitze 2000, der Flakpanzer Gepard und der Mehrfachraketenwerfer MARS können nur schwer darüber hinwegtäuschen, dass sich das Liefertempo in den vergangenen Wochen wieder verlangsamt hatte, wie auch aus der offiziellen Liste der Bundesregierung hervorgeht. "Jetzt geht es darum, dass die Ukraine verteidigungsfähig bleibt. Daher braucht sie mehr Waffenlieferungen aus dem Westen, gerade auch aus Deutschland", kritisiert CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio.

    Der Druck lässt also nicht nach. Und so dürfte es denn kein Zufall sein, dass Scholz gerade jetzt auf seiner Kanada-Reise verkünden ließ, es würden in großem Umfang weitere Waffen im Wert von mehr als 500 Millionen Euro geliefert. Vieles davon - Raketenwerfer, Bergepanzer - steht allerdings schon länger auf der Ankündigungsliste aus dem Kanzleramt.

    Kritik auch aus der Koalition

    Möglicherweise will Scholz damit auch Kritik aus der eigenen Koalition begegnen: Denn auch hier geht es so manchem nicht schnell genug: Dass die Ukraine als demokratischer Staat überlebe, liege schließlich "in unserem eigenen sicherheitspolitischen Interesse", warnt das Ampel-Trio Sara Nanni (Grüne), Kristian Klinck (SPD) und Alexander Müller (FDP) im "Spiegel". Und rät zu einer "signifikanten Steigerung" der Waffenlieferungen – selbst wenn das vorübergehend zu Lasten der Bundeswehr gehe.

    Woraufhin SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ihren Chefsprecher Christian Thiels ausrichten ließ, die Truppe dürfe nicht weiter geschwächt werden. Man stehe auch bei den Bündnispartnern der Nato im Wort: "Wir müssen nämlich darauf gefasst sein, dass Putin jede Schwäche und wenn auch nur temporäre Lücke in der Verteidigungsbereitschaft der Nato ausnutzen könnte."

    Der Kanzler und das Bremser-Image

    Nach vier Monaten zähen "Ringtausch"-Ringens konnte die Bundesregierung nun zwar endlich eine schriftliche Vereinbarung mit dem Nato-Partner Slowakei verkünden, wonach Bratislava der Ukraine Panzer aus Sowjetbeständen liefert und dafür von Deutschland mit 15 modernen Leopard2-Kampfpanzern entschädigt wird. Doch das Bremser-Image, das insbesondere dem Kanzler und seiner Verteidigungsministerin seit Kriegsbeginn – und trotz Zeitenwende – anhaftete, haben die beiden nie abschütteln können.

    Was auch an der eigenwilligen Kommunikation liegen dürfte: Schwieg Scholz doch anfangs lange zur Schwere-Waffen-Frage. Als die Forderungen - auch der Bündnispartner - unüberhörbar laut wurden, erläuterte er dann, warum er diese nicht schicken wolle, um es dann nur ein paar Tage später doch zu tun.

    "Keine Eskalation des Krieges"

    "Insgesamt ist die Zeitenwende unvollständig", diagnostiziert CDU-Fraktionsvize Johann Wadephul im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Deutschland sei noch viel zu zurückhaltend bei der Unterstützung der Ukraine. Bis heute wehren sich aber Scholz und Lambrecht vehement etwa gegen die direkte Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern deutscher Bauart - aus einer Reihe von Gründen. "Führung", so drückt es der Kanzler aus, bedeute eben auch, "dass wir sicherstellen, dass es keine Eskalation des Krieges gibt".

    Im Gegensatz zu einigen Bündnis- und auch Koalitionspartnern spricht Scholz eben nicht davon, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen, sondern lediglich davon, dass sie "bestehen" müsse. Sein Kiew-Besuch sei viel zu spät erfolgt, rügt zudem die Opposition.

    Ist Scholz umsichtig oder zu vorsichtig?

    Umsichtig verhalte sich der Kanzler, loben die einen – zu vorsichtig, kritisieren die anderen. Scholz riskiere eine ukrainische Niederlage, in dem Moment, in dem die Ukraine europäische Werte und Sicherheit verteidige. Der Kanzler selbst hingegen nimmt für sich in Anspruch, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: Die Ukraine maximal unterstützen, das Kriegsrisiko für Deutschland dagegen minimal zu halten. Wie robust Deutschland mit Russland umgehen soll, darüber wird hierzulande weiter diskutiert – trotz Zeitenwende.

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