Archivbild: 23.3.22. Erdogan bei einem Nato-Treffen
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Archivbild: 23.3.22. Erdogan bei einem Nato-Treffen

    Türkische Offensive gegen Kurden: Das Schweigen des Westens

    Während die Welt auf die Ukraine schaut, hat die Türkei militärische Angriffe gegen Kurden im Nordirak und in Syrien intensiviert. Die Bündnispartner halten sich mit Kritik zurück – Beobachter kritisieren diese Doppelmoral.

    Im Schatten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat der Nato-Partner Türkei seit April die Angriffe auf kurdische Gebiete im Nordirak und in Syrien verstärkt. "Die Angriffe sind während des Ukraine-Krieges signifikant gestiegen", sagt die Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin. Es gebe inzwischen zahlreiche neu errichtete militärische Basen entlang der Grenze, tief in den kurdischen Gebieten der autonomen Region Kurdistan-Irak.

    Türkei "im Windschatten der Russland-Aggression"

    Die Türkei agiere "im Windschatten der Russland-Aggression", sagt auch Sergey Lagodinsky (Grüne), Vorsitzender der EU-Türkei-Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss. "Die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit ist mit der Ukraine beschäftigt und die Türkei ist vielen Mitgliedstaaten als Mittler und Partner zu wichtig."

    Politologin Gürbey: "Angriffe sind völkerrechtswidrig"

    Es gibt – wie auch schon bei den Offensiven in den vergangenen Jahren – Berichte über Bombardements und bewaffnete Drohnenangriffe. Auch zivile Opfer und Zwangsevakuierungen von zahlreichen kurdischen Dörfern werden gemeldet, unabhängig überprüfen lassen sich viele der Berichte nicht. Ankara beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Gürbey sieht das anders: "Die Angriffe sind völkerrechtswidrig. Dazu gibt es sogar eine Analyse des Deutschen Bundestages."

    💡 Charta der Vereinten Nationen – Artikel 51:

    "Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält."

    Amnesty: Immer wieder Dörfer betroffen

    Auch Amnesty International kritisiert die Bombardements. "Offiziell richten sich die Angriffe gegen die PKK und ihre Rückzugsgebiete im Nordirak, aber es sind immer wieder auch Zivilistinnen und Zivilisten in Dörfern betroffen", sagt Amke Dietert, Türkei-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. Auch aus Syrien erreichen die Menschenrechtsorganisation Berichte über systematische Menschenrechtsverletzungen. Dietert: "Die Syrische Nationale Armee, die von der Türkei unterstützt wird und mit ihr zusammenarbeitet, ist weiter für willkürliche Inhaftierungen, Folter, Misshandlungen und Entführungen verantwortlich."

    Für die Menschen in den kurdischen Gebieten sei der Dauerkriegszustand eine "dauerhafte humanitäre Katastrophe", so Lagodinsky. Die Militärschläge führten zu Flucht- und Migrationsbewegungen, von politischer Stabilität könnten die Menschen gar nicht träumen.

    Kurdische Gemeinde: "Der Westen schweigt"

    Anders als beim Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gibt es jedoch keinen Aufschrei und auch kaum Kritik an der Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Der Westen schweigt, Europa schweigt und auch die neue Bundesregierung, die sich an ihrem Anspruch einer wertegeleiteten Außenpolitik messen lassen muss, schweigt", sagt Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland.

    Bundesregierung: Respekt für staatliche Souveränität

    Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, die Bundesregierung betone regelmäßig die große Bedeutung, die sie dem Respekt für staatliche Souveränität beimesse. Das gelte auch für die Lage in Nordostsyrien und Nordirak. Dies sei regelmäßig Gegenstand von Gesprächen mit allen beteiligten Akteuren, einschließlich der türkischen und irakischen Regierung. Weiter heißt es: "Uns liegen keine eigenen Erkenntnisse vor, die eine abschließende völkerrechtliche Bewertung der türkischen Militäroperationen in Nordostsyrien und Nordirak erlauben."

    Politikwissenschaftlerin Gürbey: "Realpolitik pur"

    Die Berliner Politologin Gürbey kritisiert die Haltung Berlins: "Einerseits stellt man sich zurecht unisono gegen Autokratien, andererseits lässt man aber einen verbündeten Autokraten alles gewähren und stärkt ihn damit. Das ist widersprüchlich und nicht glaubwürdig; was man öffentlich artikuliert, widerlegt man mit entgegengesetztem Handeln. Das ist Realpolitik pur." In der kurdischen Community – geschätzt leben 1,5 Million Menschen mit kurdischem Background in Deutschland – wächst derweil die Verzweiflung. "Es herrscht Unverständnis über diese Doppelmoral und natürlich sind die Kurden traurig, aber auch wütend", so Toprak.

    "Erdogan nutzt den Krieg machiavellistisch"

    Die strategische Bedeutung des Nato-Partners Türkei war schon immer wichtig, seit dem Krieg in der Ukraine ist sie noch wichtiger. Präsident Erdogan, der politisch, aber auch angesichts der galoppierenden Inflation in seinem Land auch wirtschaftlich zu kämpfen hat, weiß den Krieg nicht nur im Kampf gegen die Kurden oder ungeliebte Oppositionelle für sich zu nutzen. "Erdogan nutzt den Krieg machiavellistisch", resümiert Gürbey und verweist damit auf die politische Theorie, nach der zur Erlangung oder Erhaltung der Macht jedes Mittel – unabhängig von Recht und Moral – erlaubt ist. "Er zeigt einmal mehr die Fähigkeit, aus Krisen Kapital zu schlagen und punktet damit sowohl intern als auch nach außen", resümiert Gürbey.

    Forderungen für Nato-Erweiterung

    So tritt Erdogan, der sowohl zu Russland als auch zur Ukraine gute Beziehungen pflegt – als möglicher Vermittler zwischen den Kriegsparteien auf. Zugleich verweigert er aber Sanktionen gegen Russland. Im Ringen um einen Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands droht Ankara nun zudem mit einer Blockade. Er werde die beiden Länder nicht als Nato-Mitglieder akzeptieren, weil sie nichts gegen militante Kurden unternähmen und sich weigerten, von der Türkei als Terroristen gesuchte Kurden auszuliefern, sagte Erdogan am Montag. Sein Land hat wie alle Nato-Staaten ein Vetorecht gegen die Aufnahme neuer Mitglieder. Darum scheint es aber gar nicht zu gehen, zumindest nicht nur.

    Asselborn: "Erdogan will den Preis steigern"

    Laut Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert die Türkei Zugeständnisse zum Kauf von US-Kampfjets. Erdogan gehe es nicht wirklich um die von ihm vorgebrachten Einwände wegen der angeblichen Unterstützung terroristischer Gruppen wie der PKK durch die beiden Länder, sagte Asselborn im ZDF. "Erdogan will den Preis steigern." Er setze darauf, dass ein Kauf von US-Kampfjets nun doch noch zustande komme, der nach der Anschaffung eines russischen Luftabwehrsystems durch die Türkei von der Regierung in Washington gestoppt worden war. Ein solcher Kampfjet-Verkauf an die Türkei sei in den USA jetzt wieder in der Diskussion.

    Druck auf Kurden in Deutschland

    Damit scheint eine Befürchtung vieler Kurden Realität zu werden. "Was wird Erdogan dafür bekommen, dass er keinen Ärger beim Nato-Beitritt von Schweden und Finnland macht? Er wird wieder Waffen bekommen und dann wird man wieder wegschauen, wenn er gegen Kurden vorgeht", so Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland. Auch auf Kurden in Deutschland scheint der Druck derweil zu wachsen.

    Der Einfluss Erdogans reiche längst bis nach Deutschlands, so Toprak. "Viele aktive Mitglieder kurdischer Organisationen, die meisten davon sind übrigens deutsche Staatsbürger, werden in Deutschland ausspioniert", beklagt er. Immer wieder käme es zudem bei der Einreise in die Türkei zu Festnahmen oder die Menschen würden an der Ausreise gehindert. Toprak: "Auch darüber schweigt die Bundesregierung."

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