Journalistin oder Terroristin? Diese Frage soll ab heute das Strafgericht auf dem Gelände der Haftanstalt Silivri vor den Toren Istanbuls klären. Die Staatsanwaltschaft wirft Mesale Tolu Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung vor und Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Darauf stehen im Extremfall 15 bis 20 Jahre Haft. Aus Sicht von Tolus Anwältin sind die Vorwürfe haltlos:
"Wir hoffen natürlich auf einen Freispruch. Und wäre die Justiz unabhängig, dann wäre es gar nicht erst möglich gewesen, sie überhaupt festzunehmen. Aber wenn man sich die Entwicklungen in der Türkei in der letzten Zeit anschaut, dann kann man das wohl nicht erwarten. Es ist eher ein politisches Verfahren. Und so wird die politische Lage auch diesen Prozess beeinflussen." Kader Tonc, Anwältin von Mesale Tolu
Konsulat betreut die deutsche Staatsbürgerin
Seit Ende April sitzt Mesale Tolu in Istanbul hinter Gittern, gemeinsam mit ihrem zweijährigen Sohn im Frauengefängnis Bakirköy. Da sie ausschließlich deutsche Staatsbürgerin ist, müssen die Behörden regelmäßigen Besuch von Mitarbeitern des deutschen Konsulats ermöglichen. Darüber hinaus kümmert sich ihr Vater Ali Riza Tolu um seine Tochter und deren Sohn:
"Bakirköy ist etwas besser als andere Gefängnisse. Insgesamt sind 18 Frauen mit meiner Tochter und meinem Enkel im selben Zellentrakt. Ich habe sie gefragt und sie hat gesagt, dass sie keine körperlichen Probleme hat, also etwa Folter. Aber ich habe Wünsche: Ich kann z.B. meinem Enkel kein Spielzeug mitbringen. Ein Kind braucht Spielzeug und muss an einem anderen Ort aufwachsen. Hätten sie meine Tochter nicht gefangengenommen, wäre auch mein Enkel jetzt in Freiheit." Ali Riza Tolu, Mesales Vater
Wie weit links stand die Journalistin?
Zweifellos stand die in Ulm aufgewachsene Mesale Tolu dem linken Spektrum in der Türkei nahe, in der Anklageschrift werden die marxistisch Leninistische Kommunistische Partei MLKP und die FESK – die so genannten "Bewaffneten Streitkräfte der Armen und Unterdrückten" erwähnt. Doch wie nahe stand ihnen Tolu? Und: War sie Journalistin und Übersetzerin oder doch Aktivistin? Die Nachrichtenagentur Etha, für die sie in der Türkei gelegentlich arbeitete, ist eindeutig dem sehr linken Spektrum zuzuordnen. Etha-Nachrichtenchefin Derya Otakan sagt, ihre Agentur sei sozialistisch, aber unabhängig. Und darum gehe es in dem Prozess:
"Der Staatsanwaltschaft zielt mit der Anklageschrift auf die freie Presse. Denn die Regierung benutzt die Justiz, um die Presse noch weiter unter Druck zu setzen. Es werden Anklagen vorbereit, die sogar den türkischen Gesetzen widersprechen. Auch hier liegt uns ein rechtswidriges Schriftstück vor. Die Anklageschrift nennt keinerlei konkrete Beweise. Stattdessen beruft sich die Staatsanwaltschaft auf eine unwahre, anonyme Zeugenaussage." Derya Otakan, Nachrichtenagentur Etha
Der einzige konkrete Vorwurf: Das Schwenken einer Flagge
In der Anklageschrift wird Mesale Tolu unter anderem beschuldigt, an Gedenkveranstaltungen für linke Aktivistinnen teilgenommen zu haben, die im Feuergefecht mit der Polizei erschossen wurden. In einem Fall – und das scheint der konkreteste Vorwurf zu sein - soll die Ulmerin eine Flagge der verbotenen sozialistischen Partei der Unterdrückten getragen haben. Trotzdem meint Anwältin Kader Tonc:
"Sie hat mit ihrer Arbeit nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Deswegen hoffen wir auf Freispruch. Ich glaube aber, dass in den ersten Verhandlungstagen kein Urteil fallen wird. Der Prozess wird sich länger hinziehen." Kader Tonc, Anwältin von Mesale Tolu
Letztendlich sei Mesale Tolu auch ein Opfer der angespannten deutsch-türkischen Beziehungen, meint Anwältin Tonc. Zunächst sind zwei Verhandlungstage angesetzt. Außer Mesale Tolu stehen im selben Prozess 17 Angeklagte wegen ähnlicher Vorwürfe vor Gericht.