"Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose" steht auf dem Deckblatt der Studie, die das Bundesverkehrsministerium am Vormittag veröffentlicht hat. Nicht gerade der Titel für einen Bestseller, aber man darf davon ausgehen, dass sich zumindest in der Ampel-Koalition viele über die 64 Seiten starke Untersuchung beugen werden. Denn deren Ergebnisse dürften den Koalitionsstreit über den künftigen Kurs in der Verkehrspolitik anheizen.
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Wissing: Fakten statt Wunschdenken
Verkehrsminister Volker Wissing lässt bei dieser Pressekonferenz keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Untersuchungsergebnisse in der politischen Auseinandersetzung nutzen will: "Ich richte meine Verkehrspolitik an den tatsächlichen Begebenheiten aus, an Zahlen, Daten und Fakten und nicht an politischem Wunschdenken." Das kann man als einen Seitenhieb auf die Grünen verstehen, mit denen der FDP-Minister gerade über Kreuz liegt.
Vor allem Lkw-Verkehr wird laut Studie wachsen
Wichtigstes Ergebnis der Studie ist, dass der Verkehr in Deutschland bis zur Mitte des Jahrhunderts zunehmen wird. Das gilt besonders für den Gütertransport, der voraussichtlich um etwa die Hälfte steigen wird – im Vergleich zu 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie. Der Zuwachs auf der Straße wird laut der Untersuchung bei 54 Prozent liegen. Folglich wird der Lkw wohl das dominierende Verkehrsmittel in diesem Bereich bleiben. Auch der Güterverkehr auf der Schiene wird demnach mehr – allerdings fällt hier das prognostizierte Plus mit einem Drittel geringer aus.
Weniger Bahntransporte wegen Energiewende?
Einen Grund für die vorausgesagte Entwicklung hin zu mehr Verkehr sehen die Autoren der Studie im Bevölkerungswachstum, das mit zusätzlichen Güterströmen verbunden sei. Auch das Wirtschaftswachstum spielt demnach eine Rolle. Dass insbesondere auf der Straße mit mehr Verkehr zu rechnen ist, wird auf einen Strukturwandel im Güterverkehr zurückgeführt. Wegen der Energiewende müssten in den kommenden Jahren weniger Kohle, Koks und Mineralölprodukte transportiert werden – Güter, die bisher typischerweise auf der Schiene von A nach B gebracht werden.
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Postsendungen ein Grund für Plus beim Lkw-Verkehr
Großes Wachstum gebe es dagegen bei Gütern, die überwiegend auf der Straße befördert werden: beispielsweise bei Postsendungen und Lebensmitteln. Ein Umstand, der mit dem Trend zum Online-Handel zusammenhängen dürfte. Als weiteren Faktor nennt das Verkehrsministerium die energetische Sanierung von Millionen Wohnhäusern. Dächer und Wände müssten gedämmt, Heizungen und Fenster ausgetauscht werden. Das alles erzeuge einen "Baustellenverkehr in neuen Dimensionen".
Auto und Motorrad bleiben laut Studie beliebt
Nicht nur der Güterverkehr, auch der Personenverkehr wird der Studie zufolge zunehmen – schätzungsweise um 13 Prozent bis 2051. In diesem Bereich werde das Plus im Bahn- und Flugverkehr besonders groß ausfallen. Der Straßenverkehr werde hier nur geringfügig wachsen, wenn auch auf hohem Niveau: Auto und Motorrad blieben mit Abstand die beliebtesten Fortbewegungsmittel der Menschen in Deutschland, heißt es in einer Mitteilung des Ministeriums.
FDP für mehr Tempo beim Straßenausbau
Angesichts dieser Zahlen warnt Wissing vor einem "Verkehrsinfarkt". Um diesen zu verhindern, "brauchen wir jetzt dringend das Deutschlandtempo für den Ausbau aller Verkehrsträger – auch der Straße". Genau darüber streiten FDP und Grüne seit Wochen: Soll vorrangig das Schienennetz modernisiert werden – und zwar mit mehr Tempo als bisher? Das fordern die Grünen. Oder soll es beim Autobahnbau genauso schnell gehen? Das ist die Position der Liberalen.
Grüne setzen auf Bahn-Modernisierung
Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter erinnert im BR24-Interview daran, dass es sich bei den jetzt vorgestellten Zahlen zum Lkw-Verkehr um eine Prognose handelt. Und nicht um ein Naturgesetz, wie es er es formuliert. "Wenn man die Bahn endlich funktionsfähig machen würde, dann könnte die Bahn deutlich mehr Güter transportieren." Vernachlässige man die Schiene aber weiter, so der Abgeordnete aus Oberbayern, dann nehme der Lkw-Verkehr automatisch zu.
Der Streit über den künftigen Kurs in der Verkehrspolitik wird die Ampel wohl noch eine Weile beschäftigen. Schon an diesem Wochenende haben die Koalitionspartner allerdings die Möglichkeit, Chancen für einen Kompromiss auszuloten. Am Sonntag beginnt eine zweitägige Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg. Auf der Tagesordnung stehen keine aktuellen Streitthemen, aber am Rande werden sie sicher eine Rolle spielen.
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