Heißer Herbst oder heiße Luft? So wollen Rechte Proteste schüren
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Heißer Herbst oder heiße Luft? So wollen Rechte Proteste schüren

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Heißer Herbst oder heiße Luft? So wollen Rechte Proteste schüren

Tausende haben am Wochenende in ganz Deutschland gegen Corona-Maßnahmen, aber auch gegen Inflation oder Russland-Sanktionen demonstriert. Mancherorts wurden die Proteste von der extremen Rechten dominiert. Die hofft auf einen "Heißen Herbst".

Die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind für die Bevölkerung in Deutschland schon länger spürbar, etwa im Supermarkt oder an der Tankstelle. Zuletzt haben viele hierzulande den nächsten Tiefschlag verabreicht bekommen: Die neuen Abschlagszahlungen ihrer Energieversorger, die teils fünf bis zehn Mal so hoch liegen wie vor der Krise. Immer mehr Menschen fragen sich, wie sie ihre Nebenkosten überhaupt noch bezahlen können, sie fürchten ihre Wohnung zu verlieren und suchen Hilfe bei den Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände.

"Wir sind in einer Situation, wo diese Gesellschaft wirklich vor einer sozialen Zerreißprobe steht", sagt Ulrich Schneider, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, einem Dachverband von fast 11.000 Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen der Sozialarbeit. Inzwischen seien zwei Millionen Menschen regelmäßig auf Lebensmittelspenden der Tafeln angewiesen. Bei vielen sei die Verzweiflung groß.

Kommt nach der Verzweiflung die Wut?

Wird sich diese Verzweiflung in Wut verwandeln? Verfassungsschützer warnen inzwischen vor sozialen Unruhen in der kalten Jahreszeit. Von anderen wird ein "Heißer Herbst" dagegen geradezu herbeigesehnt. Der Österreicher Martin Sellner, einer der wichtigsten extrem rechten Aktivisten im deutschsprachigen Raum, schwärmte schon im Sommer von den neuen Chancen für die radikale Rechte. Eine Verschärfung der Lage vergrößere das Mobilisierungspotential und erhöhe die Erfolgsaussichten, so Sellner in einem Artikel auf der neurechten Webseite "Sezession". Besondere Hoffnung setzt die extreme Rechte dabei auf die sogenannten Querdenker und die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen.

Corona-Proteste – fast vergessen, doch nie ganz vorbei

Obwohl in Deutschland zwischenzeitlich fast alle Pandemie-Einschränkungen gefallen sind, haben die Proteste nie komplett aufgehört. Inzwischen nimmt die Zahl der Demonstrationen wieder zu, wenn auch weitgehend unbemerkt von einer breiten Öffentlichkeit. Ende September wurde in den einschlägigen Telegram-Kanälen zu mehr als hundert Montags-Spaziergängen und -Kundgebungen aufgerufen – allein in Bayern: Von Bamberg bis Füssen, von Kempten bis Weiden.

Wie groß die Beteiligung tatsächlich ist, lässt sich schwer überblicken. Laut Verfassungsschutz ist sie derzeit noch auf einem niedrigen Niveau. Manchmal kommen nur eine Handvoll Menschen, manchmal sind es auch mehrere hundert, wie zuletzt in Landshut, Ingolstadt, München oder Prien am Chiemsee. Längst geht es dabei nicht mehr nur um die Pandemie. So wird in den Demo-Aufrufen etwa gefordert, keine Waffen an die Ukraine zu liefern und die Russlandsanktionen zu beenden, die Bundesregierung wird für Inflation und steigende Energiepreise verantwortlich gemacht und immer wieder wird auch das gesamte demokratische System in Frage gestellt.

Die Mär vom großen Masterplan einer globalen Elite

So unterschiedlich die Corona-Demonstranten auch sind, die aktuell wieder auf die Straße gehen, in einem scheinen sie sich weitgehend einig zu sein: Dass es für alle Probleme und Krisen konkrete Schuldige gibt, dass hinter allem eine große Verschwörung steckt, sagt David Begrich. Der Theologe arbeitet für den Verein "Miteinander e.V." in Magdeburg und beobachtet seit Jahrzehnten die extreme Rechte und Protestbewegungen in Deutschland.

Die Ideologie der Querdenker sei anschlussfähig an Verschwörungsnarrative, so Begrich. Viele glaubten, dass eine Elite die Regierung übernommen und sich gegen das deutsche Volk verschworen habe, um ihm seinen Wohlstand streitig zu machen. Dahinter stünde ein großer Plan. Begrich: "Das ist eben auch eine bestimmte Form, sich die Multiplizität der gegenwärtigen Krisen zu erklären, dass man sagt: Diese Krisen sind gemacht oder sind geplant."

Chiffrierter Antisemitismus

Als angebliche Hintermänner dieses großen Plans werden auf vielen der sogenannten Friedensmärsche, Querdenker-Demos oder Corona-Spaziergänge regelmäßig Personen genannt wie der Holocaust-Überlebende und US-amerikanische Multimilliardär George Soros, der Microsoft-Gründer Bill Gates oder Klaus Schwab, der Gründer des World Economic Forum.

Auch Politiker wie Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Markus Söder oder Konzerne wie Facebook und Google, die Pharmaindustrie oder die Finanzlobby werden als Strippenzieher oder Marionetten in einem großen Machtspiel dargestellt. Eine Weltsicht, die nur noch Nuancen entfernt ist von antisemitischen Weltverschwörungsmythen. Auch wenn Antisemitismus meist nur verdeckt zum Ausdruck kommt, sagt David Begrich. "Also in einer bestimmten chiffrierten Sprache oder Bildsprache oder in bestimmten politischen Begriffen." Denn offen zutage tretender Antisemitismus sei in Deutschland gesellschaftlich stark tabuisiert.

Rechtsextreme Begriffe und Umsturzfantasien

Die extreme Rechte verwendet antisemitische Chiffren wie "Globalisten", "Wallstreet", "Finanzlobby" oder "George Soros" schon seit Jahrzehnten, um allzu offensichtliches Nazi-Vokabular zu vermeiden. Inzwischen sind diese Chiffren auch in der Querdenkerszene alltäglich.

Regelmäßig wird auf den Demos, an denen mancherorts auch Reichsbürger und Neonazis teilnehmen, offen der Umsturz proklamiert: Die Regierung sei illegitim und müsse "fortgejagt" werden. Kein Wunder, dass die extreme Rechte die Protestbewegung deshalb aufmerksam verfolgt. Längst wird in der rechten Szene darüber debattiert, ob und wie man auf den Protestzug aufspringen kann beziehungsweise wie man das Potenzial dieser Bewegung für sich nutzen kann.

Der neurechte Autor und Verleger Götz Kubitschek, einer der wichtigsten extrem rechten Stichwortgeber, proklamiert mit Blick auf den Herbst und den kommenden Winter offen den Aufstand. Die rechte Szene solle die Proteste unterstützen und dafür sorgen, dass diese "unversöhnlich und grundsätzlich" werden, schreibt Kubitschek in einer Artikelserie, die er vor einigen Wochen im Internet veröffentlicht hat: "Ein Aufstand ist unumgänglich."

Warnung vor Radikalisierung und Gewalt

Der Ton wird schriller, der Hass auf bestimmte Politiker, die als Schuldige für die Krisen markiert werden, oder auch auf Journalisten, die kritisch über die Proteste berichten, nimmt zu und damit auch das Gewaltpotenzial. Der bayerische Verfassungsschutz fürchtet einen Anstieg von Bedrohungen und Gewalt gerade gegen Amtsträger und Polizisten – wie schon bei den Corona-Protesten. "Gerade bei starker persönlicher Betroffenheit durch die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, wie die stark gestiegenen Energiepreise, sind ähnliche Radikalisierungsverläufe von Einzelpersonen, die Politiker nur noch als Hassfiguren wahrnehmen, nicht auszuschließen", erklärt das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz auf BR-Anfrage.

Legitimer Protest statt rechter Hetze

Noch werden die Proteste nicht von rechten Organisationen dominiert. Und sie seien auch noch keine Massenbewegung, betont David Begrich vom Verein Miteinander, jedenfalls nicht in dem Maße, wie von vielen noch im Sommer befürchtet. Was nichts daran ändert, dass immer mehr Menschen angesichts der Krise reale Existenzängste haben und ihre Forderungen auf die Straße tragen wollen. Daher organisiert Ulli Schneeweiß, Gewerkschaftssekretär bei Ver.di in Mittelfranken, seit Ende September sogenannte "Energie-Proteste" in Nürnberg und Ansbach. Denn es sei völlig legitim, wenn diese Menschen ihren Interessen und Forderungen Gehör verschaffen wollten. Bis weit in die Mittelschicht hinein hätten viele große Probleme, ihren Alltag finanziell zu meistern.

Solidarität statt "Heißer Herbst"

Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband mobilisiert für Großdemonstrationen Ende Oktober – ausdrücklich nicht unter dem Motto "Heißer Herbst". Dieser Begriff sei viel zu aggressiv, so Verbandschef Ulrich Schneider: "Da hat man sofort das Bild brennender Autos vor Augen." Nichtsdestoweniger fordert auch der Wohlfahrtsverband eine Kehrtwende der Bundesregierung, allerdings eine "sozial-ökologische Wende", eine "Finanzwende" sowie gesellschaftliche Solidarität. "Wenn man auch gleich klarmacht, dass Solidarität für uns auch immer internationale Solidarität ist, insbesondere mit der Ukraine, dann ist man viele Verschwörungstheoretiker, Schwurbler und Rechtsradikale sehr schnell los", ist sich Ulrich Schneider sicher.

Noch ist allerdings offen, ob Rechtsradikale am Ende nicht doch Oberwasser bekommen. Vergangenes Wochenende gingen in ganz Deutschland Zehntausende auf die Straße, und mancherorts wurden die Demonstrationen auch von der extremen Rechten dominiert, etwa im thüringischen Gera. Hauptredner dort: Der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke, der schon seit Jahren offen für einen Umsturz trommelt. Wie heiß der Herbst tatsächlich wird, wird maßgeblich davon abhängen, ob es die Politik schafft, einen kalten Winter zu verhindern und ob sich die Zivilgesellschaft entschlossen dem rechten Vormarsch entgegenstellt. Und ob der Staat Hetzer und Gewalttäter in Schranken weist – bevor es wieder gewalttätige Übergriffe und Anschläge gibt.

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